Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Häuschen einmal anzündet und mich totschlägt.
Wir nahmen am 11. 7. von Blumenfelds Abschied zwischen den Kisten in ihrer schon entleerten Wohnung. Sie fuhren am 13. nach Paris, gestern ging ihr Schiff von La Rochelle ab. Sie hinterließen uns eine Menge Sachen: einen Bronzekübel, Blumen und Blumenbrett, Zigarren … Ich gab ihm die Erstausgabe von Hegels »Phänomenologie« (aus Vaters Nachlaß, mein wertvollstes Buch), ihr: die Vida del Buscón.
»Ich sagte« (wie es in Montesquieus Tagebüchern bei Aperçus heißt): Blumenfeld solle beglückt nach Lima reisen, wir säßen hier wie in einer belagerten Festung, in der die Pest wüte . – Geht es einmal gegen diese Regierung, so müßte ein besonderer Professorenstoßtrupp gebildet werden. – Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschiedenen Nationalitäten sind ins Wackeln geraten wie die Zähne eines alten Mannes. –
11. August, Sonntag
Die Judenhetze ist so maßlos geworden, weit schlimmer als beim ersten Boykott, Pogromanfänge gibt es da und dort, und wir rechnen damit, hier nächstens totgeschlagen zu werden. Nicht durch Nachbarn, aber durch nettoyeurs, die man da und dort als »Volksseele« einsetzt. An den Straßenbahnschildern der Prager Straße: »Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter«, in den Schaufenstern der kleinen Läden in Plauen Aussprüche und Verse aus allen Zeiten, Federn und Zusammenhängen (Maria Theresia, Goethe! etc.) voller Beschimpfungen, dazu: »Wir wollen keine Juden schauen/in unsrer schönen Vorstadt Plauen«, überall der »Stürmer« mit den gräßlichsten Rasseschändergeschichten, wilde Goebbelsrede – an verschiedensten Stellen offene Gewalttaten. – Fast ebenso wilde Hetze gegen »politischen« Katholizismus, der sich mit der »Kommune« verbinde, Kirchen besudle und behaupte, es seien die Nazis gewesen. – Überall Auflösung des Stahlhelms. Seit Wochen jeden Tag stärker das Gefühl, es könne so nicht mehr lange gehen. Und es geht doch immer weiter.
17. September, Dienstag
Während ich gestern schrieb, hatte der »Reichstag« in Nürnberg schon die Gesetze für das deutsche Blut und die deutsche Ehre angenommen: Zuchthaus auf Ehe und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und »Deutschen«, Verbot »deutscher« Dienstmädchen unter 45 Jahren, Erlaubnis, die »jüdische Flagge« zu zeigen, Entziehung des Bürgerrechtes. Und mit welcher Begründung und welchen Drohungen! Der Ekel macht einen krank. Abends kam Gusti Wieghardt zu uns, sich ausklagen, sie sagte: »Schiwe sitzen«. Aber die Juden interessierten sie nicht. Hitler habe Litauen bedroht, Deutschland werde im Bunde mit England die Russen schlagen, den Kommunismus vernichten. –
5. Oktober, Sonnabend
Gott in der Geschichte: Gusti Wieghardt sagt: Hitler hat die Bewegung um mindestens dreißig Jahre beschleunigt, er arbeitet für den Sieg des Kommunismus. – Isakowitz sagt: In fünfzig Jahren wird man wohl erkennen, daß er kommen mußte, damit die Juden wieder ein Volk würden (Zion!).
Wohin gehöre ich? Zum »jüdischen Volk«, dekretiert Hitler. Und ich empfinde das von Isakowitz’ anerkannte jüdische Volk als Komödie und bin nichts als Deutscher oder deutscher Europäer.
19. Oktober, Sonnabend
Georg schrieb – beiliegender Brief –, er wandere aus. Es koste ihn drei Viertel seines ersparten Vermögens, aber er wolle nach Nürnberg nicht »unter dem Fallbeil« leben. Was mit mir sei? – Aber er ist besser daran. Wie könnte ich in USA »praktizieren«? Das war Georgs Geburtstagsbrief.
Am 8. zum Abendessen hatten wir Wieghardts und Isakowitze hier. Er versucht jetzt eine Existenz in England zu finden. Seine Frau ist eben auf Erkundigung drüben. Wir sind rettungslos gefangen.
9. November, Sonnabend
Hitler sagte von den 1923 an der Feldherrnhalle Gefallenen: »Meine Apostel«. Es heißt heute bei der Triumph- und Beisetzungsfeier: »Ihr seid auferstanden im Dritten Reich«. – Es heißt weiter: Die Bauten in der »Hauptstadt der Bewegung« sind nur ein Anfang. Wir bauen: »eine Halle für 60 000 (tausend!) Menschen« und »die größte Oper des Erdballs«. Und das in einem bankrotten Staat. – Religiöser Wahnsinn und Reklamewahnsinn.
31. Dezember, Dienstag nachmittag, Silvester
Am 29. Dezember, abends sieben Uhr, habe ich den ersten Band meines 18. Jahrhunderts, Du côte de Voltaire oder Von Voltairebis Diderot, beendet. Ich schrieb daran seit dem 11. 8. 34, ich arbeitete daran seit Frühjahr 33. In den letzten Wochen habe ich
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