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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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sehen. Ich schrieb zurück, ich gratulierte zu Neujahr, ich schrieb vor vierzehn Tagen nach Freiburg. Keine Antwort.
    Am 3.3. waren nach monatelanger Pause Susi Hildebrandt und Ursula Winkler (meine letzten Studentinnen) zum Kaffee bei uns. Susi Hildebrandt erzählte, sie wisse von ihrer Tante, daß Georg in USA sei.
    Gestern sprach ich Marta auf dem Bahnhof; sie fuhr zu ihrem Jungen nach Prag; er wartet noch immer auf Einreiseerlaubnis nach Rußland. Sie erzählte, Georg ist nach Boston übersiedelt, wo sein Sohn als Arzt am Hospital angestellt ist. Er war vorher mit Sußmanns in Köln zusammen, er hat an Marta wenigstens einen Abschiedsbrief geschrieben. Mir hat er ein Almosen von 6000 M im Sommer überlassen (weil er es dem Vater versprochen habe!), und dann hat er mich beiseite geschoben. Er hält mich offenbar für ehrlos, weil ich in Deutschland bleibe. Ich werde ihn wohl nicht wiedersehen. Er ist über siebzig, und ich bin mit meinem Herzen herunter. – Marta erzählte weiter: Felix’ Ältester ist nach Brasilien, Betty Klemperer will nach USA, auch Sußmanns undJelskis selber wollen fort – noch vor der Olympiade. Ich werde der letzte von unserer Familie hier sein und werde hier zugrunde gehen. Ich kann nichts anderes tun.
    Das Auto ist am 2. März gekauft worden. 850 M – aber monatlich 19 M Steuer darauf. Opel 32 PS, 6 Zylinder, 1932 gebaut, ganz offener Wagen. Der Kolonialwarenhändler hatte uns einen vertrauenswürdigen Mechaniker Michael empfohlen, der fuhr uns von Händler zu Händler. Wir sahen »unseren Wagen« zuerst durch ein Fenster hinter verschlossener Tür (bei Meyer in der Friedrichstraße). Sein Aussehen bestach uns. Am Nachmittag war er hier, am Abend gekauft. Ich habe ihn seitdem noch nicht gesehen. Er steht eingemietet bei Michael, der ihn überholen soll. Fahren kann ich ihn erst, wenn seine Papiere aus dem Brandenburgischen beschafft sind. Werde ich fahren können? Wie wird es mit meinen Nerven, wie mit meinem Geld sein? 19 M Steuern, 33 M Versicherungen monatlich! Das Ganze ein Desperado-Abenteuer. –
8. März
    Ich lief gestern am Bismarckplatz mitten in die Reichstagsrede Hitlers hinein. Keine Ahnung vom »Reichstag«, wahrhaftig Krolloper. Ich kam eine Stunde nicht los. Erst am offenen Laden, dann in der Bank, dann wieder am Laden. Er sprach mit durchaus gesunder Stimme, das meiste war wohl formuliert, abgelesen, nicht allzu pathetisch. Die Rede zur Besetzung des Rheinlands (»Bruch des Locarno-Vertrages«). Vor drei Monaten wäre ich überzeugt gewesen, daß wir am selben Abend Krieg gehabt hätten. Heute, vox populi (mein Schlächter): »Die riskieren nichts«. Allgemeine Überzeugung, und auch unsere, daß alles still bleibt. Eine neue »Befreiungstat« Hitlers, die Nation jubelt – was heißt innere Freiheit, was gehen uns die Juden an? Er ist auf unabsehbare Zeit gesichert. Er hat auch den »Reichstag« aufgelöst – kein Mensch kennt die Namen der »Gewählten« – und »bittet« das Volk, ihm durch Neuwahl am 29. 3. usw. –
    Ich bin unendlich bedrückt, ich erlebe keine Änderung mehr.
24. April, Freitag Abends
    Wir sind bei strömendem Regen und aufgeweichtem Boden von sechs bis dreiviertel sieben durch die Gartenausstellung gewatet, die heute eröffnet wurde; ich habe meinen Willen durchgesetzt und Eva im Auto hingefahren. Auf dem Stübelplatz manövrierte ich noch miserabel und mußte in eine Seitenstraße – aber ich habe meinen Willen durchgesetzt. In der Ausstellung war bisher wenig zu sehen, in der Hauptsache Hallen – mit Bildern und Worten im Reklamesinn des 3. Reiches, für Hitler, Blut und Boden, schaffende Arbeit, Bauern etc. – aber ich habe meinen Willen durchgesetzt und Eva im Auto am ersten Tag in ihre Ausstellung gefahren.
28. April, Dienstag
    Allmählich wird die Fahrerei etwas erfreulicher. Noch immer ist das Gartentor eine Qual, aber der Anlasser funktioniert, ich fahre besser, und wir benutzen den Wagen viel – Eva ist wirklich beweglicher geworden. Wir waren schon viermal in der Blumenausstellung, die ihr sehr viel gibt und mich im wesentlichen um ihretwillen freut; wir verbinden diese Besuche mit anderen Zielen, dem Zahnarzt, heute dem Bahnhof, wo wir Maria Strindberg auf der Durchreise begrüßten.
    Und Trostlosigkeit der Lage. Eine Verordnung für Beamte: Sie dürfen »nicht mit Juden, auch nicht mit sogenannten anständigen Juden, und übelbeleumundeten Elementen« verkehren. Wir sind völlig isoliert. Seit Wochen hören wir nichts mehr von

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