Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
sind wir ja doch ziemlich verloren. Und ob vor dem 1. April …? Trotzdem ist diese Weihnacht nicht so trostlos wie die vorige. Damals war Friede, der Westen schien endgiltig kapituliert zu haben, Hitler für unabsehbare Zeit gesichert zu sein. Und jetzt ist die Entscheidung im Gange und muß gegen Hitler fallen. Bleibt für uns nur die Frage des Wann. Die letzten Wochen für Hitler trotz ständiger Zeitungssiege offenbar sehr böse. Erst der »Seesieg« und gleich danach die Selbstvernichtung der »Admiral Spee«, dann die Selbstversenkung der »Columbus« vom Lloyd. Vor allem aber: die große Warnung, nicht das »zersetzende Lügengift« der Auslandssender zu hören, mit den abschrekkenden Urteilen: 2½ Jahre Zuchthaus für eine ganze Familie in Danzig, 1¼ Jahre Zuchthaus für Leute in Württemberg und im Rheinland. Und die entsetzliche Schmach des Hitlerschen Glückwunschtelegramms zu Stalins 60. Geburtstag. Und die Ausfälle und Proteste gegen neutrale Länder, die vorher uns befreundet und von uns gegen England beschützt werden sollten.
Silvester 39, Sonntag abend
Wir sind diese Weihnacht und dieses Silvester entschieden in böserer Lage als voriges Jahr, die Fortnahme des Hauses droht. Trotzdem ist mir wohler zumut als damals; es herrscht jetzt Bewegung, und damals stagnierte alles. Ich bin jetzt überzeugt, daß der Nationalsozialismus im kommenden Jahr zusammenbricht. Vielleicht werden wir dabei zugrunde gehen – er aber wird bestimmt enden, und mit ihm, so oder so, der Schrecken. Ob wir freilich das Haus und den Kater retten? – Wir haben in diesen Tagen allabendlich unsern hübschen Weihnachtsbaum angezündet und wollen es auch heute tun.
Schriftstellerisch kann ich mit 1939 eigentlich zufrieden sein: an 200 engste Maschinenseiten des Curriculum sind fertig, 6¾ Kapitel.
Ich zwinge mich zu einer Mischung aus Hoffnung und Nichtdaran-Denken. Tag um Tag ist in seiner Einzelheit zu erledigen: die Wirtschaft, das Essen für uns und den Kater, vorlesen und ein bißchen schreiben.
Die Pogrome im November 38 haben, glaube ich, weniger Eindruck auf das Volk gemacht als der Abstrich der Tafel Schokolade zu Weihnachten.
1940
17. März, Sonntag abend
Über einen Monat ohne Tagebuchnotiz, ich kann mich nicht mehr dazu aufraffen. Was mir die Wirtschaft an Zeit läßt, verwende ich auf die Reinschrift (und Durcharbeitung) des Curriculums. Das Stück heißt jetzt Buch II und wird allmählich fertig.
Im übrigen das zermürbende Warten. Es scheint (keine Sicherheit), daß man uns bis Mai oder Juni hier wohnen läßt. Gestern mußte ich zum Bürgermeister: junger Mann in SA-Uniform, nicht unhöflich, nicht einmal übermäßig unsympathisch. Ein Mieter sei an meinem Hause interessiert, wenn es ihm nicht zusage, werde man mich vielleicht nicht drängen. Der Interessent kam und fand das Haus nicht geeignet. Also wohl wieder Galgenfrist. Also keine Stunde Gewißheit.
Absolutes Dunkel der Lage. Greift Hitler an? Manchmal meine ich: Er muß. Die Eßnot wird immer drückender. Der Frost hat seit kurzem nachgelassen, es ist aber immer noch sehr kalt, man muß heizen, Kohlen fehlen, Kartoffeln fehlen, Fett fehlt, Fische fehlen usw. usw. Eine Weile schien alles auf Offensive hinzudeuten; jetzt scheint man abzuwiegeln: Wir haben schon sooo große Erfolge, wir warten ab, wir können es sieben Jahre aushalten. Das unlösbarste und dabei entscheidende Rätsel ist die Stimmung im Volk. Was glaubt es? Klagen und schimpfen tut alle Welt. Aber ich glaube, die meisten sind geduldig und setzen Vertrauen in das, was ihnen eingetrichtert wird.
Hitlers Reden werden neuerdings fromm. Erst sprach er von seinem Glauben an die Vorsehung. Am Heldengedenktage hoffte er »demütig auf die Gnade der Vorsehung«.
10. April, Mittwoch
Ständig trostlosere Situation. Das Haus zwangsweise zum 1. Juni vermietet, an Berger, der seinen Laden in unserem Musikzimmer aufmacht, unser eigenes Wohnen noch unbestimmt. – Besprechung mit dem Auswanderungsberater der Jüdischen Gemeinde, Ergebnis unter Null: Sie müßten heraus – wir sehen keine Möglichkeit . Amerikanisch-jüdische Komitees setzen sich nur für Glaubensjuden ein. Ihre zuständige Stelle Pfarrer Grüber, dem es an Mitteln fehlt.
Gestern, 9. 4., Besetzung Dänemarks und Norwegens. Estreicher: »Glauben Sie nicht, daß sie in vier Wochen in England landen?« Ich tat so, als wenn ich es nicht glaubte; aber in Wahrheit fange ich an, den erst für unmöglich gehaltenen deutschen Endsieg für
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