Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
bloße Strafexpedition gegen Polen. Und nun geht das heute den dritten Tag so weiter, es ist, als ginge es seit drei Jahren: das Warten, das Verzweifeln, Hoffen, Abwägen, Nichtwissen. Die Zeitung gestern, Sonnabend, verschwommen und eigentlich mit allgemeinem Krieg rechnend: »England, der Angreifer – englische Mobilmachung, französische Mobilmachung, sie werden verbluten!« etc. etc. Aber noch keine Kriegserklärung von dort. Kommt sie oder gibt man den Widerstand auf und demonstriert bloß schwach?
Auch der Heeresbericht unklar. Spricht von Erfolgen überall, meldet nirgends ernsthaften Widerstand und zeigt doch, daß die deutschen Truppen noch nirgends weit über die Grenzen sind. Wie reimt es zusammen? – Alles in allem: Nachrichten und Maßnahmen ernst, Volksstimmung absolut siegesgewiß, zehntausendmal überheblicher als 14. Dies gibt entweder einen überwältigenden, fast kampflosen Sieg, und England und France sind kastrierte Kleinstaaten, oder aber eine Katastrophe, zehntausendmal schlimmer als 1918. Und wir mitteninne, hilflos und wahrscheinlich in beiden Fällen verloren … Und doch zwingen wir uns, und es gelingt auch auf Stunden, unsern Alltag weiterzuleben: vorlesen, essen (so gut es geht), schreiben, Garten. Aber im Hinlegen denke ich: Ob sie mich diese Nacht holen? Werde ich erschossen, komme ich ins Konzentrationslager?
Das Warten im friedlichen, ganz weltabgeschiedenen Dölzschen ist besonders schlimm. Man achtet auf jeden Laut, auf jede Miene, auf alles. Man erfährt nichts. Man wartet auf die Zeitung und liest nichts heraus. Im Augenblick neige ich doch zu der Meinung, der Krieg mit den Großmächten kommt.
Ein Mütterchen beim Schlächter legt mir die Hand auf die Schulter und sagt mit tränengerührter Stimme: Er hat gesagt, er will den bunten Rock wieder anziehen und selber Soldat sein, und wenn er fällt, dann soll Göring …« Eine junge Dame bringt mir die Lebensmittelkarte, sieht mich freundlich an: »Kennen Sie mich noch? Ich habe bei Ihnen studiert, ich bin jetzt hier verheiratet.« – Ein alter Herr, sehr freundlich, bringt den Verdunkelungsbefehl: »Schrecklich, daß nun wieder Krieg ist – aber man ist doch so patriotisch, als ich gestern eine Batterie herausgehen sah, ich wäre am liebsten mit!« Das Russenbündnis entrüstet niemanden, man nimmt es für genial oder für einen ausgezeichneten Witz. –
Die israelitische Gemeinde Dresden fragt an, ob ich ihr beitrete, da sie die Reichsvereinigung der Juden örtlich vertrete; die Bekenntnischristen fragen an, ob ich bei ihnen bleibe. Ich habe den Grüberleuten geantwortet, ich sei und bliebe Prostestant, ich würde der Jüdischen Gemeinde gar keine Antwort geben.
10. September, Sonntag vormittag
Eva sagt: »Der Krieg wird zugescharrt.« Das stimmt in allen Punkten. Und ist ein Fehler . Man hat nicht mobilisiert, sondern einzeln aus den Betten geholt. Man gibt keine Verlustlisten aus. Man flaggt nicht, trotzdem in dieser ersten Woche schon Warschau erreicht. Man verschweigt die Westfront. Man läßt die Schlächterläden nach der Straße zu schließen: Schlange wird im Hof gestanden. – Es soll die Meinung aufrechterhalten werden: Nur mit Polen Krieg und raschester Sieg. Aber gleichzeitig ständig verschärfte Maßnahmen, die auf langen Krieg deuten. Einkommenssteuern um 50 Prozent erhöht, Verdunkelung in Permanenz, gestern Strafanwarnung, da die Disziplin des Verdunkelns nachließe. Gestern trat zu den gesperrten Lebensmitteln das Mehl . Da in den Fischgeschäften immer weniger zu haben, da von Fleisch vielfach auch die Markenmenge nicht ganz geliefert wird, so muß sich alles der Mehlspeise zuwenden. Es muß sich also jeder fragen, wie lange noch das Brot frei bleibe. Und jeder muß sich fragen, wie all diese Verordnungen zu der Meinung von kurzem Krieg mit Polen allein stimmen. Die ganze Affäre ist louche und muß louche wirken – Alle Universitäten geschlossen bis auf Berlin, Wien, München, Leipzig, Jena, alle TH’s bis auf Berlin, München. –
14. September, Donnerstag
Gestern nachmittag eine Dame, unbekannt, Frl. Kayser. Auftrag Grüber-Richter. Befehl der Regierung von Mund zu Mund zu verbreiten an alle Juden: Verbot, nach acht Uhr das Haus zu verlassen, Verbot, jüdische Verwandte als Besuch bei sich aufzunehmen. Außerdem Fragebogen für Gestapo ausfüllen, wie weit Stand der Auswanderung. Ob man uns abschieben und austauschen will? Ob man die nichtarisch Christlichen zwingen will, der Jüdischen Gemeinde
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