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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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hinein traf uns der lang erwartete und nun doch abscheulich wirkende Schlag.
    Ich war am Montag im jüdischen Gemeindehaus, Zeughausstraße 3, neben der abgebrannten und abgetragenen Synagoge, um meine Steuer und Winterhilfe zu zahlen. Großes Treiben: Von den Lebensmittelkarten wurden die Marken für Pfefferkuchen und Schokolade abgeschnitten: »zugunsten derer, die Angehörige im Felde haben«. Auch mußten die Kleiderkarten abgegeben werden: Juden erhalten Kleidung nur auf Sonderantrag bei der Gemeinde. Das waren so die kleinen Unannehmlichkeiten, die nicht mehr zählen. Dann wollte mich der anwesende Parteibeamte sprechen: »Wir hätten Sie sowieso dieser Tage benachrichtigt, bis zum 1. April müssen Sie Ihr Haus verlassen; Sie können es verkaufen, vermieten, leerstehen lassen: Ihre Sache, nur müssen Sie heraus; es steht Ihnen ein Zimmer zu. Da Ihre Frau arisch ist, wird man Ihnen nach Möglichkeit zwei Zimmer zuweisen.« Der Mann war gar nicht unhöflich, er sah auch durchaus ein, in welche Not wir gebracht werden, ohne daß irgendeiner einen Vorteil davon hat – die sadistische Maschine geht eben über uns weg. Am Donnerstag war er dann mit dem zuständigen Gemeindebeamten Estreicher zur Besichtigung hier. Wieder durchaus freundlich und zuredend: Sie können sich hier doch nicht halten, vom 1. 1. an müssen Sie alle Lebensmittel aus einer bestimmten Stelle in der Stadt holen. Estreicher sagte mir, ich möge das Näheremit ihm besprechen. Eva ungleich gefaßter als ich, obwohl sie ja ungleich härter betroffen wird. Ihr Haus, ihr Garten, ihre Tätigkeit. Sie wird wie gefangen sein. Auch verlieren wir den letzten Besitz, denn das Haus zu vermieten würde uns Schikanen eintragen, und wenn wir es verkaufen, bleibt uns nach Abzug der Hypothek ein winziger Betrag, der auf Sicherungskonto kommt und von dort her nie wieder in unsere Hände. Und was mit unsern Möbeln etc. anfangen? Auch muß das Katerchen vergiftet werden. Aber Eva bleibt aufrecht und macht schon Zukunftspläne. Ein Blockhaus in Lebbin! – Gestern im Gemeindehaus Besprechung mit Estreicher, der mir sehr freundlich entgegenkam. Ich ging ermutigt fort, freilich hat der Auftrieb nicht lange angehalten. Estreicher sagte im wesentlichen: Keinen Finger krumm machen, abwarten. Er halte die Sache in Händen, schiebe sie so lange als möglich hinaus, fast sicher bis Mai, vielleicht bis Juni, zwei Zimmer könne er uns dann in jedem Augenblick verschaffen – und bis Mai ist noch so lange Zeit. Wir alle hoffen … Diese Stimmung auf dem Gemeindehaus ist es, die mir Mut macht. Alle dort Beschäftigten haben schon schwerer gelitten als wir. Die meisten waren schon im Konzentrationslager, und alle tun mit ruhigster Zähigkeit ihre Pflicht, und alle sind zuversichtlich. Ich muß nächstens über die Leute genauere Notizen machen, ich bin nur zu müde. Heute und in den letzten Tagen öfter war ich zweimal auf Einkauf, das Wirtschaften wird immer schwerer, füllt immer mehr meinen Tag. Poor Curriculum.
16. Dezember, Sonnabend
    Letzten Sonntagabend kam Berger zu uns, der seinen Kramladen um die Ecke hat, sehr braver Mann, kein Nazi, im Weltkrieg Soldat und Unteroffizier. Ich hatte seiner Frau erzählt, daß wir das Haus aufgeben müßten. Er wolle es mieten, für 100 Mark – soviel kostet es uns monatlich, und das ist sein steuerlicher Mietswert –, seinen Laden in unserm Musikzimmer einrichten. Ich sagte in nuce: Einverstanden, wenn sich bis zum 1. April nichts ändert, und wenn er es nur auf den Zeitraum mietet, in dem sichdas Regime hält – (Er: »vielleicht bis morgen, die Empörung ist überall groß – vielleicht auch noch 20 Jahre«) – und wenn er den Garten brav instand hält. So verblieben wir.
    Aus den neuen Lebensmittelkarten hat man uns alle Sondergaben herausgeschnitten. Diese Sondergaben an Fleisch und Fett etc. sind aber durchweg durch Kürzung anderer Rationen ausgeglichen. (Z. B. mehr Butter = weniger Margarine). So sind wir also sehr tief herabgedrückt. Erfolg: Vogel steckt mir eine Tafel Schokolade nach der andern zu, und der Schlächter schreibt auf die Rückseite eines Zahlzettels: »Zu Weihnachten haben wir Ihnen eine Zunge zurückgelegt.«
24. Dezember, Sonntag nachmittag
    Eva schmückt den Baum, den ich mit sehr großer Mühe gestern – drei Besorgungen an einem Tag! – herangeschleppt habe. Sie ist aber noch deprimierter als ich. Wir sind eben sozusagen in extremis. Wenn kein Umschwung kommt, ehe man uns aus der Wohnung drängt,

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