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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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wahrscheinlich zu halten.
19. April
    Ich verabredete mit Berger einen kurzen Mietvertrag; die Gemeinde Dölzschen zwang mir durch die Kreisleitung der NSDAP einen andern Vertrag auf. Danach ist das Haus auf zwei Jahre vermietet, ich darf es nicht ohne die Genehmigung der Gemeinde betreten, ich darf keine Forderung an den Mieter stellen ohne ihre Genehmigung, ich überlasse ihm das Vorkaufsrecht zum festgesetzten Preis von 16 600 durch Eintragung dieses Paragraphen ins Grundbuch. Der Vertrag ist so sehr Erpressung und Instrument künftiger Schikane, daß wir das Haus gleich an Berger verkaufen wollten. Aber damit verlören wir alles: 4600 M kämen auf unser Sicherungskonto, und selbst wenn wir sie je wiedersähen – die Mark habe noch 3 Pfennig Wert, sagte mir Estreicher. So habe ich unterzeichnet (Reservatio nicht nur mentalis, sondern auch oralis Berger gegenüber: »Erpressung«, Anfechtung vorbehalten), den Grundbuchantrag gestellt, die eventuelle Schikane in Kauf genommen, eine letzte kleine Hoffnung behalten, ein wenig Geld zu retten. Eva sagt, Dölzschen sei nun auch ihr verekelt, sie spinnt Pläne eines künftigen Neuanfangs irgendwo an der Ostsee.
    Im Augenblick völligste Ungewißheit. Estreicher sagt, er werde uns etwas möglichst Gutes beschaffen, vielleicht zwei Zimmer mit Küche; aber noch hat er nicht, und am 25. Mai müssen wir hier alles geräumt haben. Auch die Kostenfrage drückt: der Umzug, die Speichermiete, und der Vertrag zwingt mich sogar, noch den Zaun hier streichen zu lassen. Alles von den jetzt 400 M Pension ohne jede Reserve. Die Angst befällt mich aber nur intermittierend: Mehr als das Haus und den letzten Pfennig verlieren kann ich nicht; und als Bettler nehme ich wie zahllose andere zu Bettlern Gewordene öffentliche Hilfe, d. h. Hilfe der Jüdischen Gemeinde, in Anspruch.
    Estreicher ist ein merkwürdiger Mensch. Jude und Leiter der Wohnungsvermittlung. Feder, Neumann usw. warnen vor ihm: Spion, Denunziant, nehme Schmiergelder. Zu mir ist der Mann aber bisher von allergrößter Freundlichkeit, und sein Rat, das Haus nicht zu verkaufen, widerspricht bestimmt seiner Nazi-Instruktion; denn man will die jüdischen Privathäuser »freiwillig« verkauft sehen, um an dem Odium der Enteignung vorbeizukommen. Vielleicht werde ich auch von Estreicher betrogen werden; aber was macht es schon aus? Ich bin auf alle Fälle hilf- und rechtlos.
    Politisch sehe ich die Lage nicht mehr so trostlos an wie am Tag der Norwegen-Besetzung. »Israel« scheint wirklich aufgestanden, und Norwegen scheint ein allzu großer und schlecht verdaulicher Bissen. Wir folgen den Kämpfen um Narvik mit verzweifeltem Anteil. Große deutsche Siegesberichte, darunter verklausulierte Eingeständnisse schwieriger Lage und schwerer Verluste; dazu die Nachrichten via Natscheff. (Gestern wieder eine Reihe Zuchthausurteile gegen Abhörer des Auslandrundfunks!) Am meisten grübeln wir über die Rolle der deutschen Luftwaffe; manches spricht für ihre große Wirksamkeit und Überlegenheit, manches auch dagegen. Man kann sich kein Bild machen. Der Heeresbericht weiß immer von vernichteten englischen Kreuzern und nie von eignen Verlusten zu erzählen. Drei Kreuzer an einem Tag: das ist enorm; aber wenn die deutschenBomber so absolut unwiderstehlich sind, wieso hält überhaupt noch eine Flotte Narvik blockiert, wie konnten englische Truppen nach Norwegen gelangen, wieso gibt es noch ein unversehrtes Schiff in Scapa Flow??? Ich kann gar nicht genug Fragezeichen tippen. –
29. April
    Abscheulichkeit der Wohnungsaffäre. Estreicher, soweit ganz höflich, zeigte uns am Sonnabend zwei Zimmer in einer Villa der Caspar-David-Friedrich-Straße (già Josephstraße). Sehr hübsch, aber auch naturgemäß mit großen Nachteilen. Am Montag in seinem Bureau sollte ich mit der Mitmieterin, einer Frau Voß, zusammenkommen, und dann sollte weiter besprochen werden. Die Zimmer sah ich mit Eva zusammen (Autodroschke, seit Monaten ihr erstes Zur Stadt, die furchtbare Mähne geschnitten). Es verstand sich von selbst, daß am Montag noch verschiedene Fragen mit der Frau Voß etc. zu regeln waren; auch hatten wir noch nichts anderes gesehen als eben diese Zimmer. Bei meiner ersten Frage wurde Estreicher im höchsten Grade anmaßend, ich sei undankbar, ich müßte ihm um den Hals fallen, ich hätte mich sofort zu entscheiden etc. etc. Dabei verfiel er ins Schreien und drohte mit seiner Allmacht, mir ein unmögliches Einzelzimmer zuzuweisen. Mich packte

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