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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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die Wut, ich sprang auf, hieb die Faust auf den Schreibtisch und brüllte ihn an, er hätte sich anständig zu benehmen. Es war eine greuliche Szene, ich zahlte sie mit einem richtigen Herzanfall und bin noch heute zerschlagen. Nach langem gegenseitigem Toben habe ich die Zimmer angenommen, um zwölf will Frau Voß herkommen zur weiteren gegenseitigen Besprechung.
3. Mai, Freitag
    Sehr traurige Tage, und mein Herz macht mir solche Beschwerden, daß ich mir keine lange Frist mehr setze. Ich bin überzeugt, an den Anfängen der Angina pectoris zu leiden. Halbwegs beruhigend war vorgestern der Besuch der Frau Voß, mitder wir fortan zusammenhausen müssen. Unaffektiert, eher, wie Eva richtig sagt, berlinisch-ruppig, scheinbar vernünftig und nicht ungebildet. Vedremo – es wird noch über sie zu reden sein. Vorderhand: Sie ist tierlieb und erhebt keinen Einspruch gegen Muschel. Inzwischen ist aber die Fleischration so tief gesunken, daß wir ihn doch nicht werden retten können. Das ist heute unser Hauptkummer. Dazu kommt die schwere Niederlage der Engländer bei Andalsnes. Was wird aus der Welt, wenn Deutschland siegt? Und aus uns?
8. Mai, Mittwoch
    Heute vormittag zu der Auswanderungsberatung in die Jüdische Gemeinde gerufen. Ein leicht anmaßlicher, nicht unhöflicher Herr aus Leipzig. Ganz aussichtslos. Einzige »Realität« Shanghai, dort kann man auf Einlaß in USA warten, wenn ein Angehöriger die Reise und 400 Dollar vorstreckt, und solange eben die 400 Dollar reichen. Seit April 39 aber bin ich ohne Nachricht von Georg. Zu diesem 10. Mai schrieb ich ihm einen Kartengruß als eine Art »Flaschenpost«.
    Der Krämer Berger, der unser Haus bekommt und einen Stufenzugang zur Terrasse baut, ist täglich mindestens einmal hier. Ein ganz gutartiger Mensch, hilft uns mit Kunsthonig usw. aus, ist gänzlich antihitlerisch, freut sich aber natürlich des guten Tausches.
11. Mai, Sonnabend früh
    Gestern, am 10. Mai (Georgs 75. Geburtstag) hat »im Morgengrauen« die Offensive durch Holland und Belgien begonnen. Natürlich der »Gegenstoß« zum »Auffangen des feindlichen Einbruchs in letzter Stunde«. Die gesamte »Aufmachung«, Hitlers Aufruf mit den famosen »tausend Jahren«, seine Übernahme der Operationsleitung (!) zeigt, daß nun alles entschieden wird. Wenn er nicht siegt (selbst wenn er Remis macht), fällt er. Geschichtsphilosophisch stimmt Montesquieus »Auch wenn Caesar nicht den Rubikon überschritten hätte, wäre die Republikgefallen.« Gewiß – aber wann wäre sie dann gefallen? Geschichtsentwicklung läßt sich mehr Zeit, als der einzelne Mensch besitzt. Und ich fürchte Hitlers Nimbus der Unbesieglichkeit.
16. Mai, Donnerstag abend
    Vielleicht der trübste Hochzeitstag, den wir je gefeiert haben. Das Chaos des Umzugs hat begonnen, neun Zehntel der Möbel müssen auf den Speicher, wir vernichten viel Schriftliches und Gedrucktes als Ballast, was wir solange bewahrt hatten. Im Garten legt Berger seine Ladenstufen an und zerstört, was Eva in Jahren aufgebaut hat. Und bei alledem das trostlose Gefühl, daß eine günstige Änderung unserer Lage auf keine Weise anzunehmen ist. Die Erfolge im Westen sind ungeheure, und das Volk ist berauscht. Ganz Holland, halb Belgien genommen, die Überlegenheit der Flieger usw. Berger heute: In der Markthalle sagen sie: »Am 26. Mai spricht Hitler in London.« Und weiter: »Und dann fallen Gibraltar und Suez.« Auch die sittlichen Begriffe sind verwirrt: »Hitler will ja nur, was Deutschland gehört, und im übrigen hat er immer versprochen, Frieden zu halten.« Und Polen? – »Das meiste davon lassen wir Rußland und nehmen eigentlich nur, was deutsch war, höchstens noch Warschau dazu.« Und die Tschechei? – »Die ist doch nun mal nicht lebensfähig als eigener Staat.« Hitlers Umschwung vom Antibolschewismus zum Russenfreund und alles andere ist vergessen: »Er will nur Frieden, er hat das immer versprochen.« – Es ist fast bis zur Unmöglichkeit schwer, sich der allgemeinen Suggestion zu entziehen und nicht mit dem »Blitzsieg« ( Blitzsieg und Gegenschlag für Sprache tertii imperii notieren!) und der phantastischen Landung in England zu rechnen. Und doch können und können wir nicht glauben, daß England und Frankreich sich vernichten lassen. Heute der erste kleine Ruhepunkt, die erste kleine Dämpfung in den Triumphberichten seit dem 10. Mai: »Der Feind hat sich zwischen Namur und Antwerpen zum Kampf gestellt.« Hitler ist wie ein Boxer, der in der

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