Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
beizutreten?
Vox populi Meister Haubold, der das rostige Ofenrohr ersetzen soll. Mannigfache Anwendung von »Scheißdreck« auf die Situation. Aber Schuld an allem England. Es will alles für sich,es hat das große Maul, unsere U-Boote werden es ihm geben, es wird im Westen nicht schlimm kommen. Polen ist von England »verarscht« worden. Andrerseits: Es wird den Winter dauern und noch länger, wir haben bestimmt mehr Tote, als offiziell angegeben (vier auf 10 000 Mann, Verlustlisten erscheinen nicht, Todesanzeigen nur im ausnahmsweisesten Fall, hier in Dresden bisher ein Motorstaffelführer und ein Redakteur der »NN«, sonst niemand!).Und ausbaden muß den Scheißdreck das arme Volk.
20. September, Mittwoch
Unsere Situation wird täglich katastrophaler. Gestern Befehl: Sicherungskonto mit beschränkter Verfügung, Ablieferung alles Bargeldes; heute polizeiliche Anfrage nach unsern Lieferanten. Es scheint also, als sollten wir strenger rationiert werden als die Allgemeinheit. Ich war am Vormittag in Pirna.
Gestern nachmittag hörte ich den größten Teil der Führertriumphrede am Lautsprecher des »Freiheitskampfes« beim Bismarck. Einiges rhetorisch sehr wirksam. »Die polnischen Soldaten kämpften tapfer, ihre Unterführung war brav, der mittleren Führung fehlte die Intelligenz, die Oberführung war vollkommen schlecht, die Organisation polnisch« … »Wir haben keine ausgehaltene Regierung wie 1918, wir sind eine friderizianische Nation, wir werden auch nach drei, auch nach fünf, auch nach sechs Jahren nicht kapitulieren.« Etc. etc. Zugleich Werben um Frankreich, es möge England im Stich lassen. »In der Propaganda sind die Engländer Stümper, sie müßten bei uns in die Lehre gehen.« Friede mit Rußland, sie bleiben Bolschewisten und wir Nationalsozialisten! … Ich hatte den Eindruck, als seien alle Umstehenden vollkommen zufrieden, siegesgewiß, sogar des nahen Friedens gewiß.
29. September, Freitag
Kaufmann Vogel: »Ich glaube nicht, daß es drei Jahre dauert; entweder die Engländer geben nach, oder sie werden vernichtet.« Vox populi communis opinio. Sie hat mit dem Russenbündnisund der Teilung Polens recht behalten, sie könnte auch jetzt recht behalten. Es herrscht hier überall absolute Zuversicht und Siegestaumel. Es scheint gar kein Krieg mehr zu sein. Im Westen geschieht nichts. Im Osten haben sich nun auch Modlin und Warschau ergeben, Gefangenenzahl schon 600 000. In Moskau verhandeln Ribbentrop und Molotow mit Balten und Türken. Der ungeheure Sieg läßt alle inneren Unzufriedenheiten zurücktreten; Deutschland regiert die Welt – was kommt es da auf ein paar Schönheitsfehler an.
9. Oktober, Montag
Moral †. Selbstmord Nacht 1.–2. 10. Am Morgen des 2. kam eine Karte von uns zu ihm, und wir warteten auf Antwort. Gestern der Brief seiner Emma, den ich aufbewahre. Gestern vormittag – ich war unrasiert und ohne Kragen – macht uns das Ehepaar Feder (Landgerichtsrat, »Betreuer«) Besuch. Ihm war der »Fall Moral« schon seit Tagen bekannt. Dem Mann war trotz seines Protestantismus das Begräbnis auf einem evangelischen Friedhof verweigert worden, weil er »Volljude« sei. Cf. den Brief der Emma. – Ja und im übrigen habe ich heute Geburtstag. Wir bemühen uns, froh zu sein. Und auf den nächsten Geburtstag zu hoffen.
12. November, Sonntag
Am 8. November im Bürgerbräu München das Bombenattentat auf Hitler.
In der Nacht nach dem Bekanntwerden des Attentats (Wir kennen die Täter: England und hinter ihm Juda) rechnete ich mit Verhaftung, Konzentrationslager, auch wohl Kugel. Als mir am Vormittag des 9. der Zigarettenhändler als erster davon erzählte, hatte ich trotz aller Philosophie böse Herzbeschwerden und Brustschmerzen. Bis jetzt unbehelligt. Was natürlich nichts besagen will.
Rundschreiben der Jüdischen Gemeinde: Dem neuen Telefonbuch ist bei Strafe sofort der Zusatzname Israel anzugeben. – Ichhabe Gott sei Dank längst kein Telefon mehr. Die jüdische Vermögensabgabe ist von 20 auf 25 Prozent erhöht worden (doch nur für Vermögen über 10 000 M). Trifft mich sowenig wie das Telefon. Auch Armut hat Vorzüge. Die Erhöhung geschah übrigens mehrere Wochen vor dem Attentat.
9. Dezember, Sonnabend
Gleich nach der ersten Zahnarztfahrt bekam Eva einen bösen Kiefernabszeß. Die schlimmsten Schmerzen gingen bald vorüber, aber dann war und blieb sie sehr mitgenommen, ist noch heute am Kauen sehr gehindert, und durch das Guaio körperlich geschwächt. In dieses Elend
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