Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
Vom Netzwerk:
morgens bis Mitternacht Frau Voß. Sie sitzt früh an Evas Bett, sie ist bei allen Mahlzeiten da, sie redet immerfort.
31. Mai, Freitag
    Das Judenhaus: Über uns Besitzer Kreidl, Protektoratsbürger, insofern etwas freier. Seine Frau, Anfang vierzig, wohl fünfzehn Jahre jünger als er, arisch. Unten seine verwitwete Schwägerin.
    Ihr Mann besaß ein großes Sportgeschäft, das dann der Sohn (fünfunddreißig Jahre) leitete. Sportfechter mit Florettpreisen. Hat drei Wochen im KZ gesessen, seine Mutter eine Woche in Untersuchungshaft. Man fand hinter ihrem Ofen Florette ohne Spitze. Staatsanwalt entschied: Sportgerät, nicht Waffe. Permit für England. Frau Kreidl jun. kam fünf Tage vor Kriegsausbruch hinüber, Kreidl jun. hier festgehalten. Alle im Haus deutschen Endsieges absolut gewiß . Dann ist da unten irgendwie angeheiratetverwandt ein dicker, brutal aussehender Herr Katz, Kaufmann, hat den Krieg als Offizier mitgemacht, ist Monomane des deutschen Soldatentums, gebärdet sich nationalistischer als jeder Nazi, freut sich der deutschen Siege, verachtet Entente. »Wir« werden England aushungern, »wir sind unwiderstehlich, unbesiegbar«. – Die englische Blockade? »Nebbich die Blockade!« – Bei den anderen natürlich in allem Pessimismus immer wieder Hoffnungen, Gerüchte, geheime Nachrichten. (Amerikas Eingreifen scheint wahrscheinlicher, vor etlichen Tagen Sturz deutscher Börsenpapiere.)
    Gestern abend brachte uns Kreidl jun. die Lebensmittelkarten, die er für das ganze Haus von der Gemeinde holt, und erzählte. Er tut jetzt neun Stunden täglich Arbeitsdienst mit dem Spaten. –
6. Juli, Sonnabend
    Neues Verbot für Juden, den Großen Garten und andere Parks zu betreten. Wirkung im Judenhaus. Katz, der dicke alte Mann mit der Offiziersmonomanie, bringt es uns zur Unterzeichnung. Er hat eine merkwürdige Liebe zu uns gefaßt, obwohl ich ihm opponiere. Weil ich ihm gern zuhöre. Weil er wünscht, daß ich recht behielte. Weil er neuerdings nicht mehr so siegesgewiß ist – die Schwierigkeiten des Landens! Er hat eine besondere Vorliebe für Eva. Weil sie an einer »Judenkarte« keinen Anstoß nahm, die ihr durch Verwechslung statt der ihr zustehenden »arischen« heraufgeschickt wurde. (Karten werden jetzt für das ganze Haus abgeholt.) Es gibt Unterschiede im Haus.
    Frau Kreidl sen. ist auch »arisch« und erbittert, in dem jüdischen Schlamassel zu sitzen. Sie hat in Evas Fall eine Szene um das J gemacht. Sie sagt: »Was geht mich das an?« »Soll sie sich scheiden lassen«, sagt Katz. Auch Kreidl sen. ist Klasse für sich. Hat das J, darf aber als Protektoratsdeutscher (geborener Böhme) nach neun auf der Straße sein, darf durch den Großen Garten gehen. Seine Frau geht in die Oper. Darf. Spannungen aus alledem. – Ich prüfe mein eigenes Herz. Immer erkläre ich: »Das J wird einmal mein Alibi sein.« Aber immer ist es mir grauenhaft, die J-Karte vorzuweisen. Es gibt Läden (ich bin noch an keinen geraten, aber z. B. der Schokoladen-Kraus), die Belieferung der Karten ablehnen. Es stehen immer Leute neben mir, die das J sehen. Wenn möglich, benutze ich im fremden Laden Evas »arische«. Übrigens ist Eva jetzt auf mühseliger Jagd (via Kennkarte und etliche Amtsstellen) auf Kleiderpunktkarte, um im Tauschweg etwas für meine Abgerissenheit zu bekommen.
18. Juli, Donnerstag
    Während Kreidl sen. neulich die Nachricht vom Ostwärts brachte – noch immer spricht jedermann in Dresden davon, und niemand weiß genau, was dahintersteckt, und die Zeitung tut jeden Tag so, als sei die Landung im wehrlosen und verzweifelten England täglich zu erwarten –, lag unten im Parterre eine alteFrau, die Mutter der Frau Katz, am Schlaganfall im Sterben und starb, während wir uns hier unterhielten. Die Gestapo hatte der jüdischen Pflegeschwester die Erlaubnis zum Nachtdienst nur mit Schwierigkeit gegeben. Ich hatte den Eindruck, als sei dem ganzen Hause, die nächsten, übrigens dick erbenden Angehörigen einbegriffen, der Todesfall unwichtiger als die politische Lage. Wir fuhren am Dienstag nachmittag zu dritt zur Leichenfeier. Ich war das erste Mal hier auf dem jüdischen Friedhof (Fiedlerstraße), wohl das erste Mal im Leben bei einer orthodoxen jüdischen Begräbnisfeier. Ein Lehrer im Talar sprach kurz. Dann wurde der Sarg aus der Halle in den Nebenraum getragen, die Männer traten vor, der Rebbe las ein langes hebräisches Gebet, die Männer fielen mit vielen Omein ein, die Frauen standen in ihren Bänken.

Weitere Kostenlose Bücher