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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Vorher Händewaschen derer, die den Sarg hinaufgetragen. Keine Musik. Die Verstorbene, die übrigens in Berlin verbrannt wird, soll sehr reich gewesen sein. Es fiel auf, wie armselig der männliche Teil des ziemlich zahlreichen Gefolges gekleidet war. – Meine eigene Kleidungsnot wird allmählich grotesk. Den »guten« Anzug muß ich schonen und laufe buchstäblich ausgefranst, ich könnte höchstens aus der Kleiderkammer der Jüdischen Gemeinde Abgetragenes zu kaufen suchen. Feder erzählte neulich, ehe ein Verstorbener noch kalt sei, bitte die Jüdische Gemeinde schon um seine Sachen. Frau Voß spinnt einen Plan, mir einen Anzug Morals zu verschaffen. Der Mann war aber viel schmaler als ich. Strümpfe von dem gefallenen Haeselbarth, ein Anzug vielleicht von dem Selbstmörder Moral – jüdische Bekleidung im 3. Reich.
26. Juli, Freitag
    Gestern nachmittag in Pirna. Annemarie – Manuskripte, auch Tagebuch, abgeliefert, etwas Geld entliehen – stark und bedrücklichst verändert. Verquollenes Gesicht, beide Augen infiltriert wie die einer Bulldogge, ständiger Husten. Sie ist offenbar schwer herzkrank.
11. August, Sonntag nachmittag
    Judenhaus: Fürchterlicher Zusammenstoß mit Kreidl sen., der uns zu großen Wasserverbrauchs bezichtigt und Sonderzahlung verlangt. Lappalie von 1,50 M, aber charakteristische Heftigkeit, ich muß schon sagen, beiderseits. Die Nerven gehen in dieser gräßlichen Situation jedem durch.
    Heute Frau Voß in tiefster Depression. Das Telefon (sie telefoniert täglich endlos mit Freunden und Angehörigen) ist allen Juden gekündigt und verboten worden. Wir sitzen immer enger gefangen. – Judenmaßnahmen in Rumänien und Slowakei, engerer Anschluß an Deutschland. Triumphaler Einmarsch rückkehrender Truppen (inmitten des Krieges). Aktuellstes Schlagwort (auch auf Begrüßungsschild verwendet): Unser Führer »Schöpfer eines neuen Europas«. – Im Generalgouvernement Polen ist ein Ghetto eingerichtet und den Juden die Zionsbinde vorgeschrieben worden; sie tun Zwangsarbeit. – Mutschman bei der Truppenbegrüßung: Am Krieg sind die Juden schuld.
30. August, Sonnabend
    Zwei enge Bogen von Sußmann. Er beschreibt, wie er den ganzen Tag rodet. Sein Schwiegersohn hat ein Sommerhäuschen mit Waldstück bei Stockholm gekauft; daraus soll Ackerland werden. Lotte Sußmann arztet in der Schweiz, in demselben Irrenhaus, in dem sie Jahr und Tag fast hoffnungslose Patientin war; die tuberkulöse Käte ist wiederhergestellt und von der Näherin zur »Ansteckerin« avanciert; sie lädt den Vater ein, ihr Auskommen lange für zwei – ich glaube in New York. Georg scheint alle Verbindung mit Europa aufgegeben zu haben, auch Sußmann ist seit Januar ohne direkte Nachricht, Betty Klemperer habe an Änny Klemperer geschrieben, daß es ihm nach einer Operation besser gehe als je zuvor. Über Marta kein Wort. Ich bin rettungsloser isoliert als alle andern Glieder des Judenhauses und der Jüdischen Gemeinde: Jeder hat eine Stütze, eine Verbindung, eine Hoffnung im Ausland – wir sind allein, absolut allein.
    Jeden Tag tauchen Gerüchte über neue Torturen auf, und bishersind die meisten in Erfüllung gegangen. Jetzt heißt es: Es seien gelbe Binden zur Kennzeichnung der Juden in Aussicht (in den Betrieben sind sie bereits eingeführt), ferner eine Beschlagnahme der jüdischen Näh- und Schreibmaschinen. Aber es taucht auch immer wieder ein Gerücht auf, das sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat: Es sei ein Landungsversuch abgeschlagen und ein Transport mit vielen Soldaten versenkt worden. – Keine Not leide ich bisher trotz aller Steuern am Geld; die Reserve bei Annemarie Köhler ist noch wenig angegriffen und nur durch den abzustotternden Umzug. Aber ich trage nun die unmodisch enge schwarze Hose eines Anzugs von etwa 1922, meine Filzschuhe gehen dem Ende entgegen, um Strümpfe steht es sehr schlecht – Frau Voß hat einige aus dem Nachlaß ihres Seligen hergegeben, dafür benutzt sie die arische Kleiderkarte, die Eva endlich herausbekommen hat –, es ist nicht abzusehen, wie ich im Punkt der Bekleidung durch die Zeit kommen soll. Doch haben wir uns strikte angewöhnt, nicht über das Morgen nachzudenken. Auch läßt es uns kalt, wenn das Judenhaus immer wieder mit Abschlachtung im Fall einer deutschen Niederlage rechnet.
27. September
    Frau Voß hat seit einer Woche Besuch ihres Schwagers, mit dem auch wir gelegentlich zusammen sind. Oberstudiendirektor a. D., Ende sechzig, aus Köln, war

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