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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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hauptsächlich in Verwaltungsposten, sehr katholisch, päpstlichen Orden im Knopfloch, Schwester im Kloster, 33 gegangen worden. Ein ausgeglichener, ruhiger, gebildeter Mann, entschiedenster Gegner Hitlers, aber auch Gegner Englands. Er möchte den Sturz Hitlers, aber er möchte auch den Sieg Deutschlands über England, nennt sich selber zwiespältig, glaubt übrigens an Deutschlands Sieg und hält Hitlers Stellung auf lange hinaus (nicht für die Dauer) unerschütterlich. Hatte keine Ahnung von all den Beschränkungen der Nichtarier.
    Diese Ahnungslosigkeit sah ich gestern an anderer Stelle ebenso. Ein freundlich zutunlicher Beamter des Ruhegeldamts,wo ich wegen der Kirchen- und Judensteuer komplizierte Auskünfte einholen mußte. Der Mann trug das Amtswalterzeichen. Wir kamen ins Gespräch, ich packte ein bißchen unvorsichtig aus, bat nachher um Diskretion. Daß man mein Haus genommen, daß ich Dresden nicht verlassen kann, daß ich verhaftet war usw. usw. – All das wußte er nicht. »Ich dachte, Sie als Frontsoldat … Können Sie nicht an einem andern Ort wohnen, wo Sie besser vergessen können? … Können Sie Ihre Pension nicht im Ausland erhalten?« Er war ehrlich entsetzt. Dabei nationalsozialistisch geeicht: »Daß es Sie so trifft! Aber Sie müssen doch zugeben, daß uns der Jude ungeheuer geschadet hat … Wir hatten Ihre Steuer erst falsch berechnet, wir wußten nicht, daß Sie Jude – entschuldigen Sie! – sind.« Ich sagte ihm, ich könnte selbst dann nicht im Ausland leben, wenn ich meine Pension dorthin erhielte, denn die Mark stünde auf vier Pfennigen. »Aber das wird ja jetzt anders. Sie können doch unmöglich an unserm Sieg zweifeln.« Ich deutete leisen Zweifel an, auch das wirkte offenbar erschütternd und war sehr unvorsichtig von mir.
14. Oktober, Montag
    Ich nahm mich zusammen und kam ohne Eruption über den 9. 10. weg. Abends im »Bräustübl« des »Monopol« am Bahnhof ein Grießpudding, als Zusatz und Geburtstagsfeier – 50 Gramm Brotmarken.
    Die Tage werden in jeder Beziehung kürzer. Sommerzeit ist geblieben, und so wirkt die frühe Dunkelheit um so störender. Dazu wieder von acht Uhr ab Hausarrest. Seit dem 1. 10. Wir wußten das nicht, bis vorgestern um Viertel neun Polizeikontrolle kam; die letzten Tage vorher waren wir ahnungslos später nach Haus gekommen; es hätte mich ins KZ bringen können. Erbitterung über die Gefangenschaft führte hinterher noch zu Zusammenstoß mit Eva. Die Nerven versagen. So muß Eva jetzt wieder öfter und sehr bald dauernd zu Haus kochen. Da sie am langen Nachmittagsspaziergang hängt – immer wieder betonend, dies sei »das einzige, was ihr geblieben« (was mindestens subjektiv richtig,und hier kommt ja alles auf das Subjektive an), so übermüdet sie sich schwer, und das führt zu elenden Abenden und unfrohen Vormittagen. Und da morgens schlechtes Licht im Bett, so lese ich viel vor. Auf solche Weise stockt das Curriculum tagelang gänzlich. Bald bedrückt mich dies Stocken, bald bedrückt mich mein Egoismus, bald finde ich meine Trauer um das Curriculum sinnlos. Die paar Leute, denen ich bisher daraus vorlas, Moral, Feder, Lissy, hat es jedenfalls nicht interessiert, und manchmal glaube ich fast: Eva auch nicht.
    Einen ganzen Tag kostete mich ein Angebot Reichenbachs, des Rechtsanwalts bei der jüdischen Wirtschaftshilfe, den ich bei Frau Breit näher kennenlernte, um eine Stelle für mich nach Chile zu schreiben. Ich werde diese Stelle nie bekommen, wir beide wollen sie nicht haben, und doch fühle ich mich verpflichtet, das Meinige dazu zu tun. Dies Meinige bestand in der Hispanisierung der Vita-Notiz. Ohne alle Kenntnisse und ohne Hilfsmittel außer dem spanisch-deutschen Tolhausen-Band eine peinliche Qual. Auch photographieren muß ich mich noch lassen. Ich sage mir immer wieder: Entweder ich überlebe den Krieg, dann brauche ich nicht fort; oder ich überlebe ihn nicht, dann brauche ich auch nicht fort, und während des Krieges kann ich nicht heraus. Also wozu die Qual? Aber andererseits: Ist es nicht doch vielleicht Autosuggestion, wenn ich mir einhämmere: Hitler verliert die Partie?
    Am 9. wurde mir nicht nur mein Alter, sondern auch meine furchtbare Einsamkeit bewußt. Kühle Zeilen von Annemarie Köhler, die seit mindestens anderthalb Jahren nicht mehr zu uns kommt. Johannes Köhler, die Carlo, meine einstigen Kollegen – wo sind sie? »Wenn alle untreu werden«, müßte man an einen bon Dieu glauben können. Georg schweigt seit

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