Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
April 39 rätselhaft, Grete ist geisteskrank. Nur Sußmann schrieb einen hübschen Brief. Er wünschte mir »Freiheit«. Er gab Auskunft über Leo Brunner, woraus ersichtlich, daß der Mann doch weniger verschollen, als ich angenommen hatte. Wir wandern auch im Lockwitzgrund (Kleinborthen! Burgstädteler Linde!) mit seinen schönen Herbstfarben.
21. Oktober
Abnutzung des Superlativs: London wird alle Tage zerstört, alle Tage sitzen die Londoner länger im Keller. Aber mehr als vierundzwanzig Stunden hat der Tag nicht, mehr als zerstört sein kann eine Stadt nicht. Vor drei Tagen war es »das größte Bombardement der Weltgeschichte«, vor zwei »Bartholomäusnacht für London«. Nun muß man pausieren, die »pausenlosen Vergeltungsangriffe« stehen secundo loco im Bericht, U-Boot-Erfolge rücken wieder an den ersten Platz. Inzwischen ist England jeden Tag über Deutschland, jeden zweiten oder dritten über Berlin. Gestern, schon um halb elf, hatten wir hier zum drittenmal Alarm, es fielen auch ein paar Flakschüsse, aber ehe wir noch den Keller aufgesucht hatten, gab es schon Entwarnung. Von Dresden will man (vorläufig) in England nichts wissen.
Neue Zwangsmaßregel in judaeos: Benutzung auch der Leihbibliotheken verboten. Zwei Jahre nach dem Verbot der öffentlichen Bibliotheken. Wieso eigentlich? Ich glaube: aus Angst, um jede Berührung des Volkes mit kritischen Köpfen zu unterbinden. Von jetzt ab muß Eva, die arische, zu Natscheff.
10. Dezember, Dienstag
Am Sonntag zum Tee unten bei Katz/Kreidl. Die halbe Jüdische Gemeinde. Ein Apotheker, der im Arbeitsdienst in Donaths Kellerei Lasten trägt, ein alter Sanitätsrat, den man von seinem Gutachterposten in einer Versicherung entfernt hat, und ihre Frauen. Jeder sagt: Hinüber, auch ins Ungewisseste! Man läßt dort niemanden verhungern, und hier ist wachsende Lebensgefahr. Übrigens waren alle gehobener Stimmung, weil es den Italienern in Albanien schlecht geht und offenbar die Engländer Herren der Adriapassage und des Mittelmeers sind. Aber immer die Angst: Uns wird man verschleppen oder schlachten. – Die öffentliche Judenhetze ist wieder im Anschwellen. Die Filmpropaganda »Jud Süß« und der »Ewige Jude«. Dieser zweite offenbar schlimmste und mit größtem Tamtam »aufgezogene« Film ist übrigens nach knapp einer Woche hier wieder verschwunden. Weshalb? Müdigkeit und Ekel des Publikums?
Ständiges Dilemma: Ich finde so überaus wenig Zeit zum Curriculum, daß ich mir gar keine Zeit zum Tagebuch nehme. Aber dies ist doch Fundament eines allerwichtigsten Kapitels des Curriculum. Ich notiere bisweilen ein Stichwort. Aber am nächsten Tag erscheint es unwichtig, in Tatsache und Stimmung überholt. Aber die wechselnden Details des Alltags sind doch gerade das Wichtigste. – Jeden Abend, wenn Frau Voß von ihren vielen Wegen und Besuchen zurück: »Erzählen Sie, was haben Sie gehört?« Ich weiß, sie quasselt halt- und sinnlos, und [ich] will doch immer wieder hören, was es für Gerüchte und Stimmungen gibt, wer von Evakuation redet, wer Hoffnungen auf England setzt, ob ein Arbeiter geschimpft hat usw.
20. Dezember, Freitag
Seit Tagen schwerer Frost, nachts 15 bis 18 Grad. Wohnung unheizbar, 9 bis 12 Grad im Zimmer. Zwist mit dem Wirt, ein Loch in der Esse gefunden, es »soll« jetzt besser werden – soll. Ich habe Frost an den Fingern bekommen, natürlich auch aufgesprungene Hände und Füße. Eva leidet sehr, auch unter der verminderten Möglichkeit, ins Freie zu kommen, ist blaß, schmal, tief deprimiert.
Neue Verschärfung der Judenschikane: Nach acht Uhr in der Wohnung selber fixiert. Besuch bei Mitbewohnern des Hauses, Aufenthalt im Treppenhaus verboten.
Zur Sprache tertii imperii: Einmalig . Mir fiel es zuerst auf in Hitlers Rede der Marschallcreierung: »Görings einmaliges Verdienst« (sprachlich absolut irreführend). Seitdem gehört es zum Nazideutsch.
26. Dezember, Donnerstag, gegen Abend
Weihnachten, wenigstens der 24., verlief passabler als befürchtet. Ein Bäumchen für 60 Pf aus Leubnitz (Evas Lieblingsort), Frau Voß umgänglich, reichlicher Alkohol, vorher im Bahnhof ein richtiges fleischmarkenfreies Hirschgulasch (für mich die ersten Fleischbrocken seit Monaten). Ein Paket mit ungeahntenSchätzen von Lissy Meyerhof: Kaffee, Tee, Kakao. (Tags darauf noch ein weiteres armseliges Päckchen der Frau Haeselbarth, ein paar Pfefferkuchen und Äpfel, ein paar Gräupchen, ein Puddingpulver. Die beiliegende Karte
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