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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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»Weihnachtsgruß vom Kirschberg« ohne Unterschrift!) Bei Vogel hatte ich markenfrei ein Pfund Quark erhalten, bei Janik noch ein bißchen Wurst erbettelt: wir waren reich. Ich freute mich auch, daß Seidel & Naumann am Vormittag meine Schreibmaschine abgeholt hatten. »Nur noch ein Lieferwagen, wenig Benzin, vom 1. Januar ab noch weniger. Wenn es nicht zufällig morgen, dem 24., klappt, geht es bestimmt nicht – wir versprechen nichts.« Es klappte, und das war um so erfreulicher, als inzwischen der junge Kreidl gutartig und großschnäuzig – »Ich kann das!« – daran herumgedoktert und den Schaden vergrößert hatte. – Der 24. also verlief leidlich. Aber am 25. sank die Stimmung. Eva übermüdete sich auf einem Weg zur »Moreauschänke« – der Frost hat nachgelassen, aber Schnee und Glätte draußen und zu Hause wenig gemildertes fortgesetztes Frieren – und klappte sehr zusammen. Auch heute auf einem kürzeren Weg zum Friedhof der Leubnitzer Kirche das gleiche Versagen Evas. Sie ist gesundheitlich total herunter. Sehr lange hält sie die Situation nicht mehr aus. –
    Zur Sprache tertii imperii . Kurve eines Wortes. Sippe . Im Mittelalter normal gebräuchlich für Familie. In der Neuzeit pejorativ. Jetzt mit affektischer Gloriole. »Weihnachten das Fest der Sippe.« (In Leubnitz haben sie Straßennamen, wie Römchenstraße, unter denen steht dann: Ratsherr oder Ratsherrngeschlecht im 14. Jahrhundert. Oder: Schreiber einer Ortschronik im 15. Jahrhundert.) – Ich finde im »Stechlin«, Kapitel 33 (Seite 342): »Jetzt hat man statt des wirklichen Menschen den sogenannten Übermenschen etabliert; eigentlich aber gibt es bloß noch Untermenschen …« Man wird die meisten neuen Worte vereinzelt schon lange vor ihrer Neuheit finden. (Ich nehme an, daß auch Fontane den »Untermenschen« nicht erfunden hat, das Gegenstück zu Übermensch lag in der Luft.) Aber das tut ihrer Neuheit keinen Abbruch. Sie sind neu in dem Augenblick, wosie als Ausdruck einer neuen Gesinnung oder neuen Sache auftauchen und in Mode kommen. Insofern ist der Untermensch doch ein spezifisches und neues Wort in der Sprache des dritten Reichs.
31. Dezember, Dienstag nachmittag
    Résumé 1940 kurz zu fassen: Am 24. Mai ins Judenhaus vertrieben. Ein Gutes war dabei: Eva lernte nach Jahren wieder gehen, sogar wandern. Im Sommer bei Frankreichs Zusammenbruch hoffnungslos. Dann allmählich ein bißchen neuen Mut geschöpft. Täglich ein wenig am Curriculum weitergearbeitet. Der zweite Band bis fast zum 15. Juli, zum Eintritt ins Heer, gelangt, rund 175 Druckseiten im Format meiner Literaturgeschichte. Wenig, aber rebus sic stantibus immerhin ein bißchen. – Das Jahr der Sommerwanderungen.
    Sprache tertii imperii : Im Neujahrsbefehl Hitlers an das Heer wieder die »Siege von einmaliger Größe «, wieder der amerikanische Superlativ: »Das Jahr 1941 wird die Vollendung des größten Sieges unserer Geschichte bringen.«

1941
12. Februar, Mittwoch nachmittag
    Vaters Todestag, und gerade heute vor zwei Jahren mit dem Curriculum begonnen. Gestern nacht Lektüre zum Frontkapitel beendet, heute erste Zeile daran geschrieben.
    Seit gestern Vorfrühlingswetter. Für jede Minute Tageszunahme, für jeden Wärmegrad, für jeden Meter begehbaren Bodens (dies besonders um Evas willen) dankbar. Eva ist so sehr verfallen, abgemagert, gealtert – und dabei liebe ich sie, während meine eigene Physis verfällt, immer leidenschaftlicher, fou d’amour sagen die Franzosen. – Gestern seit langer Zeit das erstemal ein etwas weiterer Spazierweg: Südhöhe, »Einnehmerhäuschen«, von dort E-Bus zum Bahnhofsfraß. Heute wollen wir nach Lockwitz.
    Hoffnungsfreudig, obwohl von Katastrophe bedroht. Anzeige wegen nicht verdunkelten Zimmers. Das kann so viele 100 M Strafe kosten, daß ich zum Hausverkauf gezwungen bin; es kann auch mit 20 M erledigt sein. Für beides gibt es Exempla; einen Tag lang nahm ich das Schlimmste an, jetzt bin ich ruhiger.
    Es war ein wirklicher Unglücksfall, fahrlässige Verschuldung, wie sie beim Auto vorkommen kann. Beide sind wir sonst ungemein vorsichtig im Verdunkeln, schelten auf unsern Abendwegen oft über erleuchtete Fenster, sagen, die Polizei müßte einmal durchgreifen. Und sind nun selbst der Sünde bloß. Es wirkte am Montag (10. 2.) allerhand zusammen, was mich aus dem Konzept brachte. Ich pflege übertäglich gegen halb fünf vom Einkauf zu kommen. Auspacken, Kohlenschleppen, ein Blick in die Zeitung, verdunkeln , Weggehen

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