Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
Vom Netzwerk:
Flagge, wir streichen sie nicht, wir behalten die Nasen hoch, wir bringen das Tier durch, und zum Siegesfest bekommt der Muschel »Schnitzel von Kamm« (dem feinsten Kalbschlächter hier). Es macht mich beinahe abergläubisch, daß die Flagge nun niedergeht. Das Tier mit seinen mehr als elf Jahren war in letzter Zeit besonders frisch und jugendlich. Für Eva war es immer ein Halt und ein Trost. Sie wird nun geringere Widerstandskraft haben als bisher.
19. Mai, Dienstag gegen Abend
    Muschel †. Schon vorige Woche hatte Eva Erkundigung eingezogen. In der Grunaer Straße hat jemand die Praxis des guten Dr. Groß übernommen, der unsere Kater kastriert und Nickelchen getötet hat und im vorigen Jahr mit höchstens fünfzig Jahren am Herzschlag starb. Wir schwankten tagelang. Heute kamen Nachrichten, es sei ein Ablieferungsbefehl der Gemeinde unterwegs, nach dessen Empfang ich nicht mehr das Recht haben würde, selber über das Tier zu verfügen. Wir schwankten bis vier Uhr – um fünf endete die Sprechstunde des Mannes. Wenn nicht gerade bis morgen das Regime zusammenbrach, mußten wir den Kater einem grausameren Tod aussetzen oder mich in dringende Gefahr bringen. (Ein wenig gefährlich für mich ist schondie heutige Tötung.) Ich überließ die Entscheidung Eva. Sie trug das Tier in dem nun schon traditionellen Katzenkarton fort, sie war dann bei der Tötung, die in einer raschen Narkose geschah, anwesend – das Tier hat nicht gelitten. Aber sie leidet.
    Ich schleppte mit schweren Schlundschmerzen 30 Pfund Kartoffeln von unserm Wagenhändler am Wasaplatz her. Als dort der Mann meine Karte schon in der Hand hatte, trat von hinten ein junges Weibsbild, blondgefärbt, mit gefährlich borniertem Gesicht, heran, etwa die Frau eines Kramhändlers: »Ich war eher hier – der Jude soll warten.« Jentzsch bediente sie gehorsam, und der Jude wartete. Jetzt ist es gegen sieben Uhr, und die nächsten zwei Stunden wartet der Jude wieder auf die (meist am Abend stattfindende) Haussuchung.
23. Mai, Sonnabend nachmittag
    Gestern vormittag die Nachricht vom Tode Ernst Kreidls, nachmittags die längst erwartete Haussuchung. Im wesentlichen war ich wieder einmal der Innocente. Ich ging um dreiviertel fünf (sehr ungern) wieder einmal zu Steinitz – die üblichen Gespräche –, in Torgau sollen täglich Mannschaften und Offiziere, die wegen Meuterei hingeschafft sind, standrechtlich erschossen werden –, die gefürchtete Frau benahm sich passabel –, um halb acht kam ich zurück: Das Rollkommando war hier um fünf erschienen und kurz vor meiner Rückkehr abgezogen. Ich sah zuerst durch die offene Entreetür das Chaos im Parterre. Friedheim zeigte mir die von Schlägen blutig unterlaufene Hals- und Kinnseite, er klagte über einen Fußtritt in den Leib gegen eine Bruchnarbe. Frau Kreidl und Frau Pick waren auch geschlagen worden. Bei uns fand ich Eva in voller Fassung: Es sei alles programmgemäß verlaufen. »Du bist arisch? – Du Judenhure, warum hast du den Juden geheiratet? Im Talmud steht: ›Jede nichtjüdische Frau ist für uns eine Hure‹…« Sie wurde heruntergeschickt. Sie erhielt unten ein paar Ohrfeigen – »mehr Bühnenohrfeigen als ernste«, sagte sie, während Ida Kreidl ihrerseits über Ohrensausen klagte. Aber Eva wurde mehrfach ins Gesichtund auf den Kopf gespuckt. In unserer Wohnung – und ebenso bei Frau Voß, die wie ich erst post festum eintraf, fand ich genau das Chaos, die viehische Verwüstung durch grausame und besoffene Affen, die ich schon oft habe beschreiben hören und die in ihrer Realität doch ungeheuerlich wirkte. Auch jetzt noch sitzen wir in diesem kaum gelichteten Chaos. Inhalt der Schränke, Kommoden, Regale, des Schreibtischs auf dem Boden. Zerrissene Spielkarten, Puder, Zuckerstücke, einzelne Medikamente, Inhalt von Nähkästen dazwischengestreut und eingetreten: Nadeln, Knöpfe, Scherben zerschlagenen Weihnachtsschmucks, Pastillen, Tabletten, Zigarettenhülsen, Evas Kleidung, saubere Wäsche, Hüte, Papierfetzen – inextrikabel. Im Schlafzimmer der Gang zwischen Betten und Schränken, die Betten selber übersät. Was gestohlen, was vernichtet, was willkürlich versteckt, was übersehen, ist nicht recht festzustellen. Von den Medikamenten und Chemikalien ist Pyramidon ganz, Süßstoff zum großen Teil verschwunden, braunes Tannalbin und irgendwelche rosa Hustenpastillen treiben sich überall herum. An Lebensmitteln hat man alles genommen, was auf Marken eingekauft war, Butter, Speck,

Weitere Kostenlose Bücher