Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Mai, Sonntag nachmittag
Allmählich geht mir das ununterbrochene Kartoffelschleppen, -bürsten, -essen auf die Nerven. Ich muß froh sein, daß einige Marken freigegeben sind, daß uns Bekannte ihren Anteil überlassen; denn sonst würden wir hungern. Aber Nichts-als-Kartoffel ist auf die Dauer sehr schlimm. Eva ist nicht ganz so übel daran, weil sie mittags irgendwo einen, wenn auch jämmerlichen, »Stamm« auftreibt und da sie geringere Quanten braucht als ich. –
8. Mai, Freitag mittag
»Du Judensau wirfst ja doch nur Junge, um sie zu Hetzern großzuziehen!« Ausspruch der Gestapo zu der »hinbestellten« siebzigjährigen Frau Kronheim, wie uns deren Tochter gestern erzählte. (»Hinbestellen« – auf stundenlange Spaziergänge schikken, sich immer wieder zu immer neuen Beschimpfungen und Püffen melden lassen ist die übliche Tortur im Anschluß an die Haussuchung.)
Aber gestern auch dies. Auf dem Wasaplatz zwei grauhaarige Damen, etwa sechzigjährige Lehrerinnen, wie ich sie oft in meinen Vorlesungen und Vorträgen antraf. Sie bleiben stehn, die eine kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu, ich denke: eine alte Hörerin, und lüfte den Hut. Ich kenne sie aber doch nicht, und sie stellt sich auch nicht vor. Sie schüttelt mir nur lächelnd die Hand, sagt: »Sie wissen schon, warum!« und geht fort, ehe ich ein Wort finde. Solche Demonstrationen (gefährlich für beide Teile!) sollen des öftern stattfinden. Gegenstück zum neulichen: »Warum lebst du noch, du Lump?!« Und dies beides in Deutschland, und mitten im 20. Jahrhundert. –
Was gehen mir für Wünsche durch den Kopf? Nicht Angst haben vor jedem Klingeln! Eine Schreibmaschine. Meine Manuskripte und Tagebücher im Hause haben. Bibliotheksbenutzung. Essen! Kino. Auto. –
Der vorige Krieg war eine so anständige Angelegenheit.
11. Mai, Montag
Die Tyrannei verstärkt sich täglich – wohl auch ein Trost, so wie das verschlechterte Brot einer ist. Haussuchung im Altersheim Güntzstraße. Frauen von 70 bis 85 Jahren bespuckt, mit dem Gesicht an die Wand gestellt und von hinten mit kaltem Wasser übergossen, ihnen die Lebensmittel fortgenommen, die sie auf ihre Marken als Wochenration gekauft, unflätigste Schimpfworte. – Eva wollte schwarze Nähseide kaufen. Wird nur für Trauerkleidung abgegeben, wenn der Todesfall beglaubigt nachzuweisen ist. – In der Zeitung ein Artikel, »Erfolgreiche Judenrazzia im Kreise Magdeburg-Anhalt«. Es treibe den darbenden Volksgenossen die Schamröte ins Gesicht: Man habe bei Juden ganze Kisten voller Lebensmittel gefunden, und die verbrecherischen Juden hätten sich der Polizei gegenüber noch frech benommen. Weshalb lügt man so schamlos? Es wissen doch schon so viele Arier, wie grausam den Juden gegenüber verfahren wird. Will man sich rechtfertigen, will man neuen »Sühnemaßnahmen« vorarbeiten?
Den schwersten Kampf um mein Deutschtum kämpfe ich jetzt. Ich muß daran festhalten: Ich bin deutsch, die andern sind undeutsch; ich muß daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut. Ich muß daran festhalten: Komödie wäre von meiner Seite der Zionismus – die Taufe ist nicht Komödie gewesen.
14. Mai, Donnerstag (Himmelfahrt, nicht Feiertag)
Zwei Jungen, wohl zwölf und sechs, nicht proletarisch, kommen mir auf engem Bürgersteig entgegen. Der ältere schleudert den kleinen Bruder beim Passieren rangelnd gegen mich und ruft: »Jude!« – Es wird immer schwerer, all diese Schmach zu ertragen. Und immer die Angst vor der Gestapo, das Verstecken und Fortschaffen der Manuskripte, des unbeschriebenen Papiers, das eilige Vernichten aller Korrespondenz … Die Widerstandskraft läßt täglich nach, die Herzbeschwerden wachsen täglich
15. Mai, Freitag, gegen Abend
Frau Ida Kreidl, die ich auf dem Einkaufsweg traf, berichtete die neueste Verordnung, gab sie uns dann im jüdischen Gemeindeblatt zu lesen: Sternjuden und jedem, der mit ihnen zusammenwohnt, ist mit sofortiger Wirkung das Halten von Haustieren (Hunden, Katzen, Vögeln) verboten, die Tiere dürfen auch nicht in fremde Pflege gegeben werden. Das ist das Todesurteil für Muschel, den wir über elf Jahre gehabt und an dem Eva sehr hängt. Er soll morgen zum Tierarzt geschafft werden, damit ihm die Angst des Abgeholtwerdens und gemeinsamer Tötung erspart bleibt. Welch eine niedrige und abgefeimte Grausamkeit gegen die paar Juden. Es ist mir um Evas willen sehr bitter zumute. Wir haben uns so oft gesagt: Der erhobene Katerschwanz ist unsere
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