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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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natura, eine Konservenbüchse Schnittbohnen. Nachfolgen sollen Brotmarken; bleiben sie aus, sind wir Dienstag am buchstäblichen Hungern.
24. März, Dienstag
    Bisher hat uns Annemarie mit Brotmarken im Stich gelassen; Eva hat Margarinemarken gegen ein Vierpfundbrot eingetauscht, wie wir aber durch die anderthalb Wochen bis zur nächsten Markenausgabe kommen sollen, ist ein Rätsel. Dazu die völlige Kartoffelnot. Heute gab mir Eva Unterricht im Zurechtmachen von Kohlrüben. Es geht ganz gut. Am schwersten fällt mir der Vormittag. Frieren (im ungeheizten Zimmer), hungern und vor Abspannung am Schreibtisch einschlafen ist üblich. Ich suche dann in der Küche Kätchen Sara einen Löffel Marmelade oder ein Stück Brot zu stehlen, das läßt sich aber nur machen, wenn soviel da ist, daß sie bestimmt nichts merkt. Und immer bin ich in Sorge, sie könnte doch einmal stutzig werden. Ich bewahre mein jämmerliches Geheimnis auch vor Eva. Die meist mit schmerzendem Fuß, schwerbeladen und doch ergebnislos, gegen zwei Uhr vom Einkaufsweg zurückkommt.
    Der Versuch, mir das Haus abzunehmen, ist jetzt in ein sehr ernstes Stadium getreten. Von Berger, der so freundschaftlichund antinazistisch war, bin ich betrogen worden. Wahrscheinlich ist er nachträglich der Versuchung unterlegen. Er ist jetzt, wie ich von meinem »arischen Verwalter«, dem Rechtsanwalt Heise, weiß, »politischer Leiter« geworden, er hat neulich versucht, das Haus für 12 000 M an sich zu bringen (die übrigen 4400 M würden für Reparaturen gebraucht!), er hat jetzt einen Paragraphen ausgegraben, wonach ein »gewerblichen Zwecken dienendes« Judenhaus enteignet werden kann. Sein Antrag ist von der Gemeinde Dölzschen unterstützt. (»Der Mann hat das einzige Lebensmittelgeschäft in Dölzschen,« sagt Eva, »wie sollte er da nicht mit den Ortsbonzen gut stehen!«) Heise schreibt, die Rechtslage werde »viel Kopfzerbrechen machen«, da mein Eigenheim erst nachträglich von dem jetzigen Mieter dem gewerblichen Zweck zugeführt sei. Zugleich fordert das Finanzamt nachträgliche Grundsteuer für die Zeit, in der ich das Eigenheim nicht mehr selber bewohnt habe.
27. März, Freitag, gegen Abend
    Neueste Einengung: »Es ist darauf hinzuweisen, daß Juden Lebensmittel nicht aufsparen dürfen, sondern nur soviel kaufen, als sie zum jeweiligen Verzehr gebrauchen.« Ich fragte Neumark, wieviel man danach im Hause haben dürfe (z. B. die ganze Zuckerration eines Vierwochenabschnitts?). Er erwiderte, das komme bei jeder Haussuchung auf die Gestapo an. – Das Grauen vor dieser Haussuchung verfolgt mich Tag für Tag. Kritischste Stunde scheint acht Uhr abends.
    LTI . Todesanzeigen unter dem Hakenkreuz: »Sonnig«, das in den ersten beiden Jahren florierte, erscheint auch jetzt, aber seltener. »Lebensfroh« steht in mindestens vier von fünf Anzeigen, und ebensooft ist die Nachricht, die man tieferschüttert erhält, »unfaßbar«. Alle drei Ausdrücke sind lebensbejahend und in diesem Zusammenhang betont unchristlich. Religiöse Formel (»es hat Gott gefallen« und dergleichen) ist sehr selten , aber auch das Runenzeichen () bildet nur die Ausnahme. Selten geworden, nein, nur seltener, keineswegs vereinzelt: »Für Führer und Vaterland« und »in stolzer Trauer«.
31. März, Dienstag
    LTI . Die Sprache bringt es an den Tag. Bisweilen will jemand durch Sprechen die Wahrheit verbergen. Aber die Sprache lügt nicht. Bisweilen will jemand die Wahrheit aussprechen. Aber die Sprache ist wahrer als er. Gegen die Wahrheit der Sprache gibt es kein Mittel. Ärztliche Forscher können eine Krankheit bekämpfen, sobald sie ihr Wesen erkannt haben. Philologen und Dichter erkennen das Wesen der Sprache; aber sie können die Sprache nicht daran hindern, die Wahrheit auszusagen.
5. April, Ostersonntag, abends
    Zum erstenmal frühlingshaftes Wetter. – Am Nachmittag bei Neumanns; dort auch Glaser mit seiner tonlosen Geige (Frau Glaser sagte ab, die gemütskranke Tochter brauchte Pflege). »Wenn Besuch kommt, hat Frau Professor (die arische!) den Kuchen mitgebracht.« Bilanz der Feiertage: bisher vier Selbstmorde unter den Juden. Ein Ehepaar nach der Haussuchung zur Gestapo bestellt, nahm Veronal. Ein Schneider und ein Kaufmann erhängten sich im Gefängnis vor dem Abtransport ins KZ. – Neue Evakuierungstransporte aus Berlin und mehreren andern Städten abgegangen. – Dem steht gegenüber: Vom 15. April ab erhalten die Amtswalter Revolver. Stimmungssymptom. Die Gespanntheit der

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