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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Leihbibliotheken.25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. Und in den Restaurants bekommt man immer noch etwas zu essen, irgendeinen »Stamm«, wenn man zu Haus gar nichts mehr hat. Eva sagt, die Restaurants seien übervoll. 26) Keine Kleiderkarte. 27) Keine Fischkarte. 28) Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark. 31) Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins). Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes. –
    Wir leben jetzt buchstäblich von milden Gaben. Gestern schenkte uns Ida Kreidl zwei Pfund Kartoffeln, heute brachte sie mir einen Teller gekochter Kartoffeln und eine Tasche voll von Fräulein Ludwig gestifteter Kartoffeln. Von ihren Einkaufswegen kommt Eva mit ziemlich leeren oder ganz leeren Händen zurück. Es gebe nur Spinat – auch den nur in winzigen Mengen –, und den kann sie nicht essen, und zur Zubereitung fehlt uns auch ein Wiegemesser. (Und mir widerstrebt sowieso, was nur für mich auf den Tisch kommt.) Von Brot und Kartoffeln hier zu Haus esse ich mindestens fünf Sechstel; der Teller Gemüse, den Eva bei ihren Einkaufswegen in irgendeinem Restaurant schluckt, ist geringes Gegengewicht. Auch ist sie ungleich stärker abgemagert als ich. –
5. Juni, Freitag vormittag
    Der gestrige Nachmittag, die Nacht zum Heute vollkommen verstört, weil das Haus endgültig verloren schien . Daran hängt Eva mit äußerster Leidenschaft, sie ist auch immer der Meinung, ich hätte es beizeiten sichern müssen (durch Überschreibung an sie), ich hätte fahrlässig gehandelt, ich sei widerwillig dem ganzen Hausproblem gegenübergestanden. (Darin hat sie recht, ich habe mich der Sache nie gewachsen gefühlt.) Die letzten Tage waren auch besonders hart, zweimal Gestapo, der tote Kater,nun das Haus. Es war sehr bitter. – Frau Ida Kreidl rief mich herein: Ihr Schwager Arndt war bei ihr gewesen, er und noch mehrere Juden seien zur Gestapo bestellt worden, hätten dort »unterschreiben« müssen, daß ihnen Vermögen und das Haus beschlagnahmt seien. Ich solle also wenigstens nicht allzusehr erschrecken, wenn ich Vorladung auf die Gestapo erhielte. Die Leute seien dort nicht mißhandelt und auch nicht verhaftet worden. Es wurden nur gerade Kohlen abgeladen, und daran mußten sie sich beteiligen – ohne Schaufeln, mit bloßen Händen!
6. Juni, Sonnabend gegen Abend
    Immer neue Grausamkeiten der Gestapo. Besonders gegen alte Leute. Jetzt ist eine Gruppe in Wintermänteln hinbestellt (bei 26 °C). So müssen die Leute stundenlang durch die Stadt wandern, zwischendurch sich immer wieder am Bismarckplatz melden, wo sie geschlagen werden. – Aber es vergeht jetzt auch nicht ein Tag, wo nicht von irgendeiner Seite berichtet wird: »Der und der Arier hat mir gesagt: ›Aushalten – es brennt an allen Ecken, innen und außen – vor dem Winter ist es zu Ende.‹« – Unten die Frauen Ida Kreidl und Julia Pick sind völlig verstört vor Ängsten; Frau Pick hält sich besser, schüttet uns aber täglich ihr Herz aus; Ida Kreidl ist oft in aufgelöstem Zustand. – Von den fünf Männern hier im Haus: Ernst Kreidl, Paul Kreidl, Dr. Friedheim, Richard Katz, ich – bin ich nun der einzige Übriggebliebene: Katz am Krebs gestorben, Ernst Kreidl erschossen, Paul Kreidl deportiert, Friedheim hoffnungslos gefangen.
    Das jämmerliche Hungern: Wie oft stehle ich Kätchen eine Schnitte Brot aus ihrer Brotbüchse, ein paar Kartoffeln aus ihrem Eimer, einen Löffel Honig oder Marmelade. Ich tue es mit gutem Gewissen, denn sie braucht wenig, läßt vieles verkommen, erhält manches von ihrer alten Mutter – aber ich komme mir so erniedrigt vor.
11. Juni, Donnerstag nachmittag
    Nach einem gipfelhaft furchtbaren Tag eine dauernde weitere Verschlimmerung der Situation. Gestern mittag gegen halb zwei – ich hatte die Kartoffeln auf dem Feuer – wieder Gestapo, das vierte Mal in vierzehn Tagen. Erst schien hier oben alles sich über Kätchen zu entladen, die im Bade saß und als Monna Vanna im Schlafrock erschien. Sie hatte am Morgen von ihrem Schwager Voß einen langen Maschinenschriftbericht über den Bomberangriff auf Köln und die großen Zerstörungen erhalten. An sich nichts Strafbares, da der

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