Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
diesmal bloß – aber zum zweitenmal in wenigen Tagen! – die angerissene Butter vom Teller gestohlen. (Bis zum Montag werden wir kein Gramm Fett haben.) Nach einer Weile kamen Elsa und Ida Kreidl und Fräulein Ludwig zu uns herauf. Der Überfall hatte Friedheim gegolten. Ida Kreidl und Frau Pick waren diesmal leichter mißhandelt worden (immerhin hatte Frau Pick zwei Stunden lang stehen müssen und einenOhnmachtsanfall gehabt, immerhin waren ein paar Mark aus Ida Kreidls Portemonnaie gestohlen, sämtliche Butter und Brot- – Brot! – Vorräte fortgenommen, die Milch ausgeschüttet.)
Von Montag an, Beginn der nächsten Kartenphase, erhalten Juden keine Milch mehr. – Das Brot ist so naß und sauer (Kohlrüben? Kartoffeln?), daß ich es kaum schlucken kann. Aber bei Charkow haben wir drei russische Armeen vernichtet und »bisher« 165 000 Gefangene [gemacht].
Frau Ida Kreidl muß heute ihren Kanari in einer zoologischen Handlung abliefern, weit, weit draußen in der Bautzener Straße, zu Fuß. Gut, daß unser Muschel in Frieden ruht.
30. Mai, Sonnabend vormittag
Wir sprachen heute beim Frühstück über die unglaubliche Fähigkeit des menschlichen Aushaltens und Sichgewöhnens. Diese märchenhafte Gräßlichkeit unserer Existenz: Angst vor jedem Klingeln, Mißhandlungen, Schmach, Lebensgefahr, Hunger (wirklicher Hunger), immer neue Verbote, immer grausigere Versklavung, tägliches Näherrücken der Todesgefahr, täglich neue Opfer rings um uns, absolute Hilflosigkeit – und doch immer noch Stunden des Behagens, beim Vorlesen, bei der Arbeit, beim mehr als kümmerlichen Essen, und immer wieder weitervegetiert, und immer wieder gehofft. –
Gestern nachmittag bei Marckwald. Das große Elend des gelähmten Kranken. Er bekam, während wir plauderten, eine Morphiumspritzung. Er erzählte, sein Vater, Landwirt, habe sich 1873 taufen lassen, »der Beruf forderte es«, er selber sei bei der Geburt getauft worden, bei Ausbruch des Krieges Oberleutnant d. R. (aber schon leidend und nicht mehr frontfähig) gewesen. Ich fragte ihn nach den Berliner »Spaziergängen« seines Vetters. Er sagte, er besäße sie nicht mehr, es sei ein »schnoddriges Feuilletonbuch« gewesen. Der Mann sei jetzt Mitte der Siebzig. Mutatis mutandis das Problem Arthur Eloessers, auch mein Problem. Die Umkehr der Assimilierten-Generation – Umkehr wohin? Man kann nicht zurück, man kann nicht nach Zion. Vielleicht ist esüberhaupt nicht an uns zu gehen, sondern zu warten: Ich bin deutsch und warte, daß die Deutschen zurückkommen; sie sind irgendwo untergetaucht.
2. Juni, Dienstag gegen Abend
Neue Verordnungen in judaeos. Der Würger wird immer enger angezogen, die Zermürbung mit immer neuen Schikanen betrieben. Was ist in diesen letzten Jahren alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. Ich stelle einmal die Verordnungen zusammen: 1) Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle! 2) Aus dem eigenen Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telefonverbot. 4) Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. 5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. 6) Verbot zu fahren; (dreiphasig: a) Autobusse verboten, nur Vorderperron der Tram erlaubt, b) alles Fahren verboten, außer zur Arbeit, c) auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7 km entfernt wohnt oder krank ist (aber um ein Krankheitsattest wird schwer gekämpft). Natürlich auch Verbot der Autodroschke.) 7) Verbot, »Mangelware« zu kaufen. 8) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. 9) Verbot, Blumen zu kaufen. 10) Entziehung der Milchkarte . 11) Verbot, zum Barbier zu gehen. 12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen und Wolldecken, 15) von Fahrrädern – zur Arbeit darf geradelt werden (Sonntagsausflug und Besuch zu Rad verboten), 16) von Liegestühlen, 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürgerwiese und die Randstraßen des Großen Gartens (Park- und Lennéstraße, Karcherallee) zu benutzen. Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten. Diese letzte Verschärfung seit gestern erst. 22) Seit dem 19. September der Judenstern . 23) Verbot, Vorräte an Eßwaren im Hause zu haben. (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist.) 24) Verbot der
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