Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Kartoffeln, so schwarz und stinkend, daß er den Magen umdreht, ein winziger Rest Brot. Auch für Eva nichts aufzutreiben, da ihr Marken fehlen. Sie wird morgen bei der Frau Fleischer betteln müssen . – Am Nachmittag Kronheims, die jetzt in derAltenzeller Straße wohnen, die wir neulich nach langer Zeit bei Friedheims Beisetzung sahen, die Eva zum sechzigsten Geburtstag schrieb und dringend um unsern Besuch bat. Die Frau ist ein Nichts geworden und spielt nach schweren Mißhandlungen und nun von Theresienstadt bedroht mit Veronalgedanken (ich sagte, Veronal seien jetzt »jüdische Drops«).
Neueste Judenbeschränkung (II, 5?): Verbot, Zeitungen zu abonnieren oder zu kaufen; auch darf die arische Ehefrau, falls der Mann Stern trägt, kein Blatt auf ihren Namen halten oder kaufen.
21. Juli, Dienstag
Gegen Abend
Die Hausbesitzerin Elsa Kreidl zeigte uns den Brief der NSDAP, in dem nun auch über unsere Etage, »die Judenwohnung Voß«, zum 1. September verfügt ist. Eva steht diesem neuen Umzug sehr kalt gegenüber: Seitdem sich das Schicksal des Katerchens erfüllt hat, ist es ziemlich einerlei, wohin wir kommen. Mich selber bedrückt nur dies: Als wir im Mai 40 hier einzogen, sagten wir uns, dies sei ein Provisorium. Und nun nach zweieinviertel Jahren wird ein neues »Provisorium« beginnen, und unter welch verschlechterten Verhältnissen. Allein die Sommer! Im Sommer 40 die weiten Ausflüge, im Sommer 41 immer noch Spaziergänge und Sattessen, im Sommer 42 ist Eva an die Stadteinkäufe gebunden, und ich lebe wie ein Gefangener, und beide hungern wir. Und täglich lege ich mir die Frage vor, ob ich den Sommer 43 erlebe. Die andern Männer des Judenhauses sind alle hin, nach dem gestrigen Gerücht auch Paul Kreidl.
25. Juli, Sonnabend gegen Abend
Schon ist der nächste Mordfall zu verzeichnen. Es klingelte vor einer halben Stunde, ich öffnete unten einer Frau, die ich nicht erkannte, die zu »Frau Voß« wollte und heraufstürzte. Wir hörten dann in Kätchens Zimmer laut und zweistimmig weinen und schreien. Ihre Schwägerin brachte die Nachricht vom Tod desvor etwa vierzehn Tagen verhafteten Joachimsthal. – Verhaftet werden, gleichgültig um welcher Nichtigkeit willen – der Bruder Joachimsthal hat nach einer Version »den Stern verdeckt«, nach einer andern über die Ausgehzeit hinaus in dem Restaurant gesessen, in dem seine Frau tätig ist –, Verhaftetwerden ist jetzt identisch mit Getötetwerden, gleich hier an Ort und Stelle, die Konzentrationslager werden erst gar nicht mehr in Anspruch genommen.
26. Juli, Sonntag morgen
Ich bin all diesen Ereignissen und Szenen gegenüber in altruistischer Hinsicht eiskalt, gemein kalt. Ich bemühe mich nur immer, um den Schauer der Todesangst herumzukommen. Immer wieder schüttelt es mich: Sie werden auch mich holen. Es geht nicht mehr nach Besitz – jeder ist dem Mord ausgesetzt. Dieser Joachimsthal lebte in Mischehe, war vermögenslos, war Kriegsteilnehmer, war Arbeiter im Rüstungsbetrieb, stand auf der Liste des letzten (am Montag herausgehenden) Transports (wieso?) und wurde inzwischen gekillt. (Wieso?) Wenn sie mich töten, sparen sie eine Beamtenpension. Sooft ich an den Briefkasten gehe, denke ich, eine Karte könnte mich auf die Gestapo bestellen. Gestern abend beim Abschied an der Korridortür murmelt Frau Ida Kreidl rekapitulierend vor sich hin: »Den Ernst, den Professor, den Bruder der Frau Voß … Alle ermorden sie.« – Den »Professor«. Sie meinte den »Doktor« (Friedheim), sie sprach von uns immer als von »dem Doktor«, »dem Professor«, sie verwechselte nur die Titel. Eine höchst natürliche Sache und lief mir doch mit grausigem Schauder über. – Ich möchte so unendlich gern noch ein paar Jahre leben, ich habe vor gerade diesem Tod, dem vielleicht tagelangen Warten mit der Gewißheit des Sterbens, dem vielleicht Gefoltertwerden, dem Auslöschen in absoluter Einsamkeit ein solches Grauen. Ich rette mich immer wieder in das, was jetzt meine Arbeit ist, in diese Notizen, in meine Lektüre. Ich bin nicht nur kalt bei all den Gräßlichkeiten, ich habe immer auch eine gewisse Wonne der Neugier und Befriedigung:»Also auch davon kannst du persönliches Zeugnis ablegen, auch das erlebst du, wieder eine Bereicherung des Curriculum oder der LTI!« Und dann komme ich mir mutig vor, daß ich alles zu notieren wage. Im allertiefsten kauert natürlich das Gefühl: Ich bin schon so oft davongekommen – warum soll es nicht auch diesmal glücken?
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