Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Die Entbehrung der Zeitung. Dann das Klingeln der Briefträgerin. Ist es die Briefträgerin, oder sind »sie« es? Und was bringt die Briefträgerin? Dann die Arbeitsstunden. Tagebuch ist lebensgefährlich; Buch aus der Leihbibliothek trägt Prügel ein, Manuskripte werden zerrissen. Irgendein Auto rollt alle paar Minuten vorbei. Sind »sie« es? Jedesmal ans Fenster, das Küchenfenster liegt vorn, das Arbeitszimmer hinten. Irgendwer klingelt bestimmt, mindestens einer am Vormittag, einer am Nachmittag. Sind »sie« es? Dann der Einkauf. In jedem Auto, auf jedem Rad, in jedem Fußgänger vermutet man »sie«. (Ich bin oft genug beschimpft worden.) Mir fällt ein, ich habe die Mappe eben unter dem linken Arm getragen – vielleicht war der Stern verdeckt, vielleicht hat mich einer denunziert. Beim Einkauf habe ich als Mischehemann immerhin nicht ganz so vieles zu befürchten wie die andern. Wenn Frau Kreidl auf eine jüdische große Marke ein paar kleine J-lose zurückbekommt (was sich garnicht vermeiden läßt), so steckt sie die »arischen« unter das Futter ihrer Handtasche, denn es ist verboten, arische Marken bei sich zu haben. Und immer hat ja Frau Kreidl auch irgendeine zugesteckte Mangelware bei sich. In diesen Punkten also bin ich gesicherter. Danach ist ein Besuch zu machen. Frage beim Hinweg: Werde ich dort in eine Haussuchung geraten? Frage beim Rückweg: Sind »sie« inzwischen bei uns gewesen, oder sind »sie« gerade da? Qual, wenn ein Auto in der Nähe hält. Sind »sie« das? Dann wieder die Versteck-Affäre wie morgens und mittags. (Bei dem Besuch ist natürlich nur und ausschließlich von den jüngsten Elendfällen gesprochen worden.) Gegen neun Uhr abends ruhiger. Jetzt steht höchstens noch der Kontrollpolizist aus. Der ist höflich, der ist nicht Gestapo. Beim Schlafengehen letzter Gedanke: Ich schlafe meist traumlos, nun ist wohl Ruhe bis morgen früh. Aber neulich träumte ich doch, ich sollte in einer Gefängniszelle erhängt werden. Hinrichtungsträume habe ich als ganz junger Mensch gehabt. Seitdem nicht mehr. Damals war es wohl die Pubertät; jetzt ist es die Gestapo. –
Mit vollkommener Ruhe muß Frau Pick den Selbstmord verübt haben. Ein Abschiedsschreiben auf ihrem Tisch ist mit ruhigster Schrift – ganz anders als meine Zittrigkeit – und stilistisch gefeilt abgefaßt: »Ich danke allen, allen , die mir die zweieinhalb Jahre in Strehlen (sie meint Haus Hirschel, uns hier und die Marckwalds) durch ihre Herzenshöflichkeit verschönt haben.« Herzenshöflichkeit – wie abgewogen!
Abends
Alles lief prompt ab. Katz konstatierte gegen zwölf Leichenstarre, Exitus etwa vor fünf Stunden, und ordnete das übrige: Eine halbe Stunde später war die Polizei hier, wieder eine halbe Stunde später der Leichenwagen mit den mir vom Friedhof her bekannten Leuten und dem mir auch schon bekannten Transport- und Feiersarg, den man offenbar als einziges Exemplar besitzt. Weiß Gott, wohinein die Kadaver kommen, die man nicht verbrennt und in ein Urnchen stopft. Am späten Nachmittag überbrachte ich die Nachricht den sehr entsetzten Marckwalds.
23. August, Sonntag vormittag
Wir sind beide in den Wirbel der Evakuation und unseres Umzugs hineingerissen. Eva verrichtet prouesses. Sie hat gestern mit und durch Thamm abgeschlossen, daß wir am 3. September zum Lothringer Weg übersiedeln, sie arbeitet für Ida Kreidl auf der Nähmaschine, hilft ihr an allen Ecken und Enden, sie war gestern in Pirna. – Ich begann den heutigen Tag mit Möbelschleppen von Ida zu Elsa Kreidl, vom Parterre zum zweiten Stock. Jetzt wird Eva jeden Augenblick heruntergeholt; die Gemeinde hat einen Packer geschickt, der sehr hilflos ist. Das Problem: Jedes Judenschwein darf nur einen kleinen Handkoffer und eine kleine Handtasche mitnehmen – alles andere, Möbel, Wäsche, alles verfällt im versiegelten Zimmer. Natürlich ist auch alles Vermögen verfallen. (Aber alle klammern sich an das Roosevelt-Churchill-Versprechen des Schadenersatzes beim Friedensschluß.) Und alle ziehen an Kleidern, Wäsche, Strümpfen übereinander an, was irgend auf den Leib geht.
21. August, Freitag vormittag
Eva hat gestern vormittag im wesentlichen unsere Wohnungsangelegenheit in Ordnung gebracht und sich auf [Vorschlag] Reichenbachs († Estreichers Nachfolger) für zwei Zimmer am Lothringer Weg, Blasewitz, entschieden, die allerlei Vorzüge und Nachteile haben sollen.
24. August, Montag nachmittag
Gestern der Abschiedsbesuch bei Kronheims
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