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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Aber die langen Momente der gräßlichen Angst häufen sich. –
    Hinter der Tragik dieses jüngsten Mordes steckt eine abscheuliche Komik. Kätchen hat mir vor wenigen Monaten eine Szene gemacht, weil ich in ihrer Abwesenheit ihren Bruder in ihrem Zimmer warten ließ. Dieser Verbrecher, der sie erpressen wolle, dürfe nicht in ihren Sachen kramen. Noch schlimmer war sie auf die Schwägerin zu sprechen. Jetzt ist eine zärtliche Gemeinsamkeit zwischen den Frauen, und der Bruder wird beklagt wie der geliebteste Angehörige. Eva sagt, in Kätchens Schmerz sei viel Konvention: Man trauert um einen Bruder. Wiederum trauert sie wirklich: Die Tränen sind echt, die graue Gesichtsfarbe ist es, die Aufregung ist es. Und sie ist wirklich herzleidend, eben hat sie wieder ein Arzt wegen Herzangina und Herzerweiterung krank geschrieben. Wiederum: Ihr Geist erscheint mir immer wieder wie eine Schiefertafel: nichts Aufgeschriebenes haftet, in der nächsten Sekunde geht der Schwamm einer neuen Impression darüber. Wiederum: In den Minuten, in denen die üble Aufschrift erscheint, leidet sie doch wirklich. –
6. August, Donnerstag vormittag
    Gewöhnung: Ein paar Wochen sind seit dem Mord an Joachimsthal, ein paar Monate seit den Haussuchungen bei uns vergangen. Und schon lebe ich in einer gewissen stumpfsinnigen Ruhe. Gewöhnung: Am Dienstag geht wieder ein Transport von hier nach Theresienstadt; und schon scheint mir, scheint es der Judenheit hier eine Selbstverständlichkeit. –
    Seit einigen Wochen geht Kätchen, »krank geschrieben«, nicht mehr ins Zeiss-Ikon. Ihr Eifer ist doppelt abgekühlt, seit ihr das Fahren verboten, und seit es sich herausgestellt hat, daß auchZeiss-Ikon keine Sicherheit vor der Deportation bedeutet. Aber sie ist mit ihren Leuten dort in ständiger Verbindung und hört, was vorgeht. Man hat einen Schub ganz junger, halbkindlicher Russinnen eingestellt und hält sie von den jüdischen Arbeiterinnen fern. Aber man hat vergessen, daß unter den Juden viele russisch sprechen, und so besteht Konnex. Die Mädchen sind zum Dienst gepreßt und fühlen sich als verschleppte Gefangene. Sie hungern in ihrem Massenquartier, morgens und abends ein Topf Kaffee mit einer Schnitte Brot, mittags nur eine dünne Suppe. Sie hungern so, daß ihnen die jüdischen Kameraden zu Hilfe kommen. Das ist verboten; aber man läßt eine Schnitte unter den Tisch fallen, nach einer Weile bückt sich die Russin und verschwindet dann mit dem Brot aufs Klosett. (Die Juden erhalten eine Hauptmahlzeit in der Kantine.) – Zeiss-Ikon soll »ein Völkergemisch« beschäftigen; polnische, französische, dänische etc. Arbeiterinnen.
10. August, Montag vormittag
    Ich hatte wieder Gelegenheit, das grenzenlose Elend anzusehen, das wissentlich von den Regierenden verschuldet worden ist. Gestern zum drittenmal auf dem jüdischen Friedhof: Feier für den Joachimsthal. Es waren ziemlich viele Teilnehmer da: durchweg diese entsetzliche Abgezehrtheit, die Schwierigkeit, eine Person wiederzuerkennen, die ich ein paar Monate nicht gesehen habe. Kätchens Verwandter Falkenstein ist aus einem kräftigen Mann zu einem zusammengeschrumpften Männchen mit blassem, ganz schmalem Gesichtchen geworden, der breitschultrige, hochgewachsene Cohn, der bei uns für die »kleine Winterhilfe« zu sammeln pflegte, ist ein wandelndes Gerippe usw. usw. – Magnus ist geistig verfallener als körperlich. (Ob er das gleiche von mir denkt?) Ich hatte Dr. Magnus versprochen, nach der Feier ein Weilchen mit ihm zu plaudern, und während ich auf ihn wartete, ging ich mit Eva durch den nicht sehr großen Friedhof. Die Feiern finden bei den kleinen Urnenlöchern der direkt Ermordeten statt. An der Mauer entdeckten wir ziemlich frischeausgewachsene Gräber. Mehrfach Doppelgräber, Ehepaare, die am selben Tage geendet haben. Das sind die Selbstmörder der letzten Zeit. Kommen sie weniger auf das Konto des Mannes mit dem gutmütigen Herzen? (Es wird behauptet, in Berlin seien die Haussuchungspogrome more Dresdensi unbekannt.)
    Der weite Umweg um den verbotenen Großen Garten. Ich war fast drei Stunden unterwegs, geriet auf dem Rückweg in Mittagsschwüle, kam sehr zerschlagen heim, konnte mich erst am späteren Nachmittag zur Sombartlektüre aufraffen.
16. August, Sonntag nachmittag
    Vor zwanzig Jahren etwa, als Walter Jelski bei uns wohnte, sah Eva einen jüngeren Tänzer auftreten, für den sich Walter interessierte: Harald Kreutzberg. Jetzt war der Mann hier wieder einmal

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