Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
drei, vier Tagen erneut Ordre von der Gestapo erhalten, wo man sie dann erst recht malträtieren werde. – So sehe ich neues Unheil voraus. Der Selbstmordversuch wird sich wiederholen, die Aufmerksamkeit der Gestapo auf unserm Haus haftenbleiben. (Man hat gestern auch in den versiegelten Zimmern Friedheims gewühlt und geplündert und sie dann neu versiegelt.) Ich sah und hörte manches von dem allmählichen Zusichkommen Frau Picks mit an. Jammervoll. Sie ist eine feine, schön wirkende, schlanke alte Dame, eine wirkliche Dame. Wie sie da hilflos und betäubt auf einen Nachttopf gesetzt wurde, wie die nackten Schenkel gelbe Knochen mit wenig Umhüllung waren, wie der Topf durch irgendeine Ungeschicklichkeit zerbrach … Nachher, wie sie ein paar Worte zu sprechen begann: sonst eine lebhafte, geistvolle Stimme, jetzt ein wehleidiger, undeutlicher Singsang. Und ich hatte weniger Mitleid als Grauen. – Gestern, und heute tagüber, war ich sehr zerschlagen, der verstärkte Druck der Lebensgefahr, die weitere Drosselung, die grausame Unsicherheit lasteten sehr. Jetzt, gegen Abend, bin ich schon wieder beruhigter. Es muß auch so weitergehen. Irgendwelche bereichernde Lektüre wird sich schon finden, und das Tagebuch werde ich weiter wagen. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. – Ein tragikomischer Zwischenfall. Beim Kaufmann Hähne am Wasaplatz sprach mich eine besternte Dame mit zwei netten kleinen Jungen an. »Herr Professor Klemperer, nicht wahr?« Wie es Frau Pick gehe. Sie selber: Frau Hirschel, ihr Mann Vorsteher der Gemeinde, war schon imBilde. Ich berichtete, sie begleitete mich, die Jungen liefen voraus und klingelten, ehe ich ihnen unser Haussignal (dreimal kurz) mitteilen konnte, zum Unglück blieb auch noch der Klingelknopf stecken, und sie hatten den mittleren, den zu uns führenden, erwischt. Natürlich glaubte Eva, die Gestapo sei da. Sie war gerade damit beschäftigt, für die zwei gestern zerrissenen Patiencekarten Ersatz zu malen, sie hatte das ganze Kartenspiel und eine Tabakschachtel und Zigarettenhülsen neben sich. Also besonders gefährdete Sachen. Sie warf alles unter den Ofen in der Küche, ehe sie zum Fenster stürzte. Irgendwo ist immer noch ein bißchen Komik im Spiel – Frau Ida weint um ihren Nachttopf –, interessant ist auch alles: Aber über das unfaßbar Grausige der Situation hilft das nicht hinweg,und jeden Tag fühlen wir uns schlimmer gehetzt und dem Tod näher. Wir glaubten vorgestern, die Lage sei unüberbietbar schlimm, sie ist seit gestern hundertmal schlimmer. Sie wird morgen wieder noch schlimmer als heute sein.
13. Juni, Sonnabend vormittag
Die Gestapo beanstandete neulich freiliegende Wollsachen Evas. »Weiß deine Alte nichts von der Spinnstoffsammlung?« Ich sagte, sie suche gerade zur Abgabe Geeignetes heraus. Heute kam die Verordnung von der Jüdischen Gemeinde: Für Besternte und ihre Ehegatten Zwangsabgabe von Wäsche, Kleidung etc. Eva ist mit großen Packen ihres Zeuges soeben zur arischen Sammelstelle, ›freiwillig‹. Ich selbst habe weniges der Gemeinde abzugeben. Vielleicht läßt sich einiges von Evas Sachen nach Pirna retten. Fährt sie heute nachmittag hinüber, dann sollen wieder Manuskriptblätter mit. Aber ich bin seit Evas Zusammenstoß mit der Gestapo um sie fast besorgter als um meine Person.
19. Juni, Freitag vormittag
In Shaws »Saint Joan« gibt es einen wilden Ketzerjäger, der verzweifelt zusammenbricht, als er Johanna brennen sieht. »Ich habe ja nicht gewußt …!« Er hat sich das Entsetzliche nichtvorstellen können. So buchstäblich unvorstellbar ist mir bisher unsere Situation gewesen: Man hat mir immer berichtet vom Geschlagen- und Bespucktwerden, vom Zittern vor jedem Autogeräusch, jedem Klingeln, vom Verschwinden und Nicht-Wiederkommen – ich hab es doch nicht gewußt. Ich habe Ernst Kreidels Schicksal aus nächster Nähe miterlebt, und ich hab’ es doch nicht gewußt. Jetzt weiß ich, jetzt ist das Grauen immer in mir, auf ein paar Stunden übertäubt oder zur Gewohnheit geworden oder paralysiert vom »Es hat noch immer gut jegangen« und dann wieder als Würgeanfall lebendig. Das ist ein Streitfall zwischen Eva und mir. Sie sagt, es sei ihr nichts Neues und Überraschendes, sie habe das alles doch hundertmal gehört. Ich: Aber jetzt erst erlebe ich’s, meine Phantasie oder mein Altruismus waren nicht stark genug, um es so , so ganz bei andern mitzuerleben. – Ich vergleiche dies Todesgrauen mit dem im Felde. Dies hier ist
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