Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
und mir abgespielt. – (Ich habe vergessen, am Fußboden sah es ähnlich, aber nicht ganz so schlimm aus wie beim ersten Aufräumen. Immerhin war das Notizblatt zum »Mythus«, eine Arbeit von zwei Tagen, zerfetzt, und Evas Zigarettenhülsen waren zertreten und verstreut, ebenso wieder ihre Patiencekarten.) – Die Katastrophe also entlud sich über Frau Pick, die Siebenundsiebzigjährige. Sie ist wieder furchtbar geschlagen und gestoßen worden. »Dein Mann hat die Malzfabrik gehabt? Der Blutsauger! Dein Wurf ist im Ausland und hetzt gegen uns, aber dich haben wir, und du kommst uns nicht davon. – Du bist morgen früh um sieben auf der Gestapo – du gehst allein – wer dich begleitet, fliegt ins KZ.« Frau Pick erzählte uns das, als wir danach bei ihr unten waren. Sie setzte etwas Merkwürdiges hinzu. Drei Kerle hatten sie gepeinigt; ein vierter, einen Augenblick allein mit ihr, habe ihr aufs freundlichste zugeflüstert: »Lassen Sie sich gut raten, gehen Sie morgen früh nicht hin.« (Wir hörten neulich einen ähnlichen Fall von Kätchen: eine Arbeitskameradin kam nach Haus, der Chauffeur eines Gestapoautos vor der Haustür rief sie an: »Fräuleinchen, gehen Sie noch eine Weile spazieren – die sind oben!« Selbst unter diesen Leuten also »Verräter«.) Frau Pick sagte, sie sei körperlich unfähig, den weiten Weg zu machen, sich noch weiter mißhandeln zu lassen, sie habe ein schönes Leben gehabt, und nun sei es zu Ende. Frau Pick ist im Gegensatz zu Ida Kreidl durchaus nicht sentimental und weichlich, sie hatte vordem immer ihre Lebensfreude und ihrenLebenswillen betont. Wir waren ernstlich besorgt um sie. Um neun kam sie zu uns herauf, brachte 55 M, etwas Schmuck und ein paar Kleinigkeiten, darüber sollten wir verfügen, wenn sie morgen verhaftet würde. Kurz vor zehn ging ich noch einmal zu ihr hinunter, sie saß ruhig im Fauteuil, eine Decke über sich, sehr ruhig, aber sehr blaß, und es zuckte immerfort zwischen ihren Augen. Ich sagte ihr: »Wir wollen uns nichts vormachen; Sie haben die Absicht, sich zu töten. Denken Sie an Ihre Kinder, denken Sie, daß beim Lebenden Hoffnung, daß die Sache der Nazis hoffnungs los ist, bleiben Sie tapfer …« usw. usw. Ich suchte sie auf alle Weise zu stärken, zu beschwören. Ich sagte: »Geben Sie mir Ihr Wort, sich nichts anzutun.« – »Ich kann es nicht versprechen, ich will noch einmal überlegen.« – »Geben Sie mir doch Ihr Veronal.« (Wo haben all die Leute das Veronal her?) – »Das würde nichts helfen, lieber Herr Professor, ich habe noch andere Mittel da. Ich bin jetzt so müde, und mir ist so übel.« – Ich ging herauf, wir waren alle überzeugt, sie würde sich töten. – Um sechs, wir lagen noch im Bett, öffnete Kätchen – sie floh ins Werk – unsere Schlafzimmertür, hinter ihr stand verstört Frau Ida Kreidl. Frau Pick schlafe sehr tief, atme sehr schwach, wir sollten sie ansehen. Die Frau schien ruhig zu schlafen, aber ihr Atem ging sehr leise, sehr flach und schnell, und sie bewegte sich nicht, trotzdem wir an ihrem Bett sprachen, die Tür öffneten und schlossen. Wir zögerten bis gegen acht Uhr, dann rief ich von der Gärtnerei gegenüber – sehr freundliche, mitfühlende, antinazistische Leute – den Dr. Katz an. Ich sei nicht Arzt, hätte aber den Eindruck einer Veronalvergiftung. Er sagte, er habe wenig Bewegungsfreiheit – Auto sei ihm nur nachts in schwersten Fällen erlaubt – er werde gleich eine Krankenschwester schicken und im Lauf des Vormittags kommen. Als die Schwester, eine ruhige, reife Frau, kam, war Frau Pick noch bewußtlos, atmete aber besser, bewegte sich auch gelegentlich. Eine schwere Vergiftung schien nicht vorzuliegen. Wir hatten für acht Uhr mit dem Erscheinen der Gestapo gerechnet, sie war aber von Dr. Katz benachrichtigt worden. Wir waren mehrfach bei Frau Pick unten; man plauderte und hörteimmer angstvoll auf jedes Auto. (Die gesteigerte Angst und Unsicherheit ist das Schlimmste.) Katz kam gegen Mittag und war gewissermaßen entsetzt, einen leichten Fall zu finden. Nach dem Durchsuchen ihrer Medikamente, und später nach ihrer Aussage, hat Frau Pick nur Adalin genommen, freilich acht Stück. Katz sagte, die Gestapo betrachte derartiges als »Tarnung« und »Sabotage«, die Leute wollten sich nur an der Ordre des Kommens vorbeidrücken. Er, Katz, werde den Fall etwas ernsthafter hinstellen, schon um sich selber und mich zu decken. Aber Frau Pick werde in zwei Tagen hergestellt sein und nach
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