Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
tausendmal gräßlicher. Dort war es schlimmstenfalls das »Feld der Ehre«, dort war mir bei Verwundung jede Hilfe gewiß. Jetzt – dies gräßliche Verschwinden. Was ist aus Friedheim geworden? Was geschah ihm, als man ihn hier fortschleppte? Was im Gefängnis? Wie war sein Ende? Ausgelöscht; nach Qualen im Schmutz ertrunken. Tausend-, tausendmal gräßlicher ist das als alle Furcht 1915. – Und immer die Angst, immer das Zum-Fenster-Laufen, ob auch kein Auto …
23. Juni, Dienstag
Nachmittag
Jüngste Verfügung: Vom 30. Juni ab werden die jüdischen Schulen geschlossen, es darf den Kindern auch kein Privatunterricht erteilt werden. Geistiges Todesurteil, Analphabetismus erzwungen. Es wird ihnen nicht gelingen. Ein Lastauto, hoch mit Koffern und Packen beladen, fuhr vor: allgemeine Abholung der beschlagnahmten Spinnstoffe. (Von den Ariern wird einiges freiwillig abgegeben; den Juden wird alles abgezwungen. Zurückbehalten werden darf, was zu »bescheidenem Gebrauch« nötig ist. Wie wird die Gestapo das auslegen?) Die ganz jüdischen Ehenliefern auch alles elektrische Gerät und Grammophone ab. Davon sind wir – vorläufig – befreit.
24. Juni, Mittwoch vormittag
Wir sprachen von der Verschlechterung unserer Situation. Wie glimpflich waren die Haussuchungen in Dölzschen. Und jetzt … Eva sagte: » Das sind keine Haussuchungen mehr. Es sind Pogrome .« Sie hat damit völlig recht.
Heute nachmittag also gehen diese Blätter nach Pirna. Meine neueste Furcht ist, daß sie auch da nicht in absoluter Sicherheit sind. Annemarie ist ja anrüchig. Dort entdeckt, würden diese Manuskripte (und das übrige) Annemarie, Eva und mich vernichten. Es ist, als seien die Geister Ernst Kreidls und Dr. Friedheims jetzt immer um mich. Aber die Gefahr ist so groß und so allgegenwärtig, daß sie mich zum Fatalisten macht. Dies Manuskript ist meine Pflicht und meine letzte Ausfüllung.
7. Juli, Dienstag
Abends
Kätchen berichtet: Das Henriettenstift, an fünfzig alte Leute, wird evakuiert. Da muß ihre Mutter, die unverwüstliche Achtzigerin, mit nach Theresienstadt; Kätchens Bruder ist verhaftet und also ein toter Mann. Dieser Joachimsthal ist ein übles Subjekt, mit dem sie schon viel Zwist gehabt und der sie erpreßt hat – aber weswegen wird er jetzt gemordet? Er soll »den Stern verdeckt haben« oder nach neun unterwegs gewesen sein. Dafür in den Tod. – Es graut mir so, ich sehe immer die kleinen Urnenlöcher vor mir. Cras mihi. –
12. Juli, Sonntag vormittag
Eva sechzig Jahre alt. Keinen ihrer Geburtstage, auch nicht während des vorigen Krieges, in so furchtbarer Lage gefeiert. Mit ganz leeren Händen, hungrig und in ständiger Lebensgefahr. Ich kann nicht einmal sagen: Wir holen die Feier nach; denn wie hoch ist die Chance, den Zeitpunkt des Nachholens zu erleben?
Kätchen, für die Geburtstagsfeiern etwas Rituales und Unerläßliches sind, brachte ein Primeltöpfchen – heroische Tat, die das KZ [bedeuten] und also das Leben kosten kann. Typisch kleinbürgerlicher Heroismus. Sie brachte auch als Hinterlassenschaft ihrer Mutter ein Handtäschchen. Wir wollen die Mutter gegen Mittag im Henriettenstift aufsuchen. Ich bin neugierig, dies Altersheim vierundzwanzig Stunden vor der Evakuierung kennenzulernen. Mehr Neugier und eine Art Pflichtgefühl des Chronisten als Mitleid. –
14. Juli, Dienstag gegen Abend
Kätchen hatte sich polizeilichen Urlaub genommen, um die letzte Nacht bei der Mutter zu verbringen. Die alten Leute wurden gestern nachmittag aus dem Henriettenstift in das ziemlich nahe Gemeindehaus (Zeughausstraße) gebracht und übernachteten dort in einem Saal auf Liegestühlen. Sie wurden dann um fünf auf einen Lastwagen (mit hineingestellten Bänken, darübergespannter Plane) gesetzt, ein Anhängerwagen beförderte ihr Gepäck. Kätchen erzählt, es hätten mehrere Leute, Arier, zugesehen und ihr starkes Mißfallen ausgedrückt. »So gehen die mit den Juden um! Verladen sie wie das Vieh.« Dr. Katz habe den Transport wieder begleitet. Durchweg sei er unbeliebt. Dagegen spreche alles von dem (unbesoldeten) Gemeindevorsteher Hirschel mit größter Liebe und Bewunderung. Der Mann reibe sich auf. Er hatte heute nacht um drei den Polentransport verabschiedet, war dann zu den alten Frauen herübergekommen, war nach ihrer Abfahrt gleich wieder in sein Bureau gegangen. Alle Arbeit und alles Leid werde auf ihn abgeladen.
19. Juli, Sonntag abend
Der erste Tag wahrhaft grausamen Hungers. Ein winziger Rest
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