Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
Vom Netzwerk:
angezeigt, für heute nachmittag im »Theater des Volkes« (già Alberttheater, wo wir die English Players sahen). Eva sprach davon, ich bewog sie hinzugehen, und so hat sie eben jetzt, wie sie es nannte, »arischen Ausgang«. Wirklich ein Ereignis, das mir, das uns auf die Seele fällt. Ich mußte ihr lange zureden. Seit bald vier Jahren von allen öffentlichen Veranstaltungen, Theater, Kino usw. ganz abgeschnitten. Die unendliche Armut unseres Zustandes! Eva muß ihre Exkursion geheimhalten, sonst erregt sie zu heftigen Neid. Bin ich neidisch? Bestimmt nicht. Es hätte mich bedrückt, wenn sie nicht hingegangen wäre. Eppure … Es fällt mir alles ein, was ich entbehre und vielleicht nie wieder haben werde. Abstinenz macht schmutzig . Ob sie sich auf Zucker oder Kino, Tabak oder Frauen, Brot oder Auto bezieht. Man ist von dem Entbehrten immer in schmutziger Begehrlichkeit besessen.
19. August, Mittwoch vormittag
    Les faits nouveaux: Zum neuen Transport nach Theresienstadt zählen Ida Kreidl, Frau Pick, Frau Kronheim. – Wir müssen die Wohnung nun doch schon zum 1. September verlassen, der Aufschub zum 1. 10. ist umgestoßen worden.
    Marckwalds selbst waren für diesmal verschont, also auf vierzehnTage bis drei Wochen gesichert. Er ängstigte sich wieder um das Morphium, ich machte ihm, von seiner Frau unterstützt, Mut und glaubte selber nicht, was ich redete. Frau Marckwald unterstützte mich und sagte mir nachher draußen: »Er wird es natürlich nicht bekommen.« – Beim Rückweg stieß ich auf Hirschels (deren Villa: Wiener Straße 85, Marckwalds Quartier: Wiener Straße 95). Er schloß sich mir an, er wollte Frau Pick, seine frühere Mieterin, aufsuchen. Er klagte über die namenlose Brutalität der Gestapo. Besonders die beiden, mit denen wir auch zu tun hatten, der »Spucker« und der »Schläger«, seien Teufel. Es sind nicht, wie ich gedacht, ganz subalterne Beamte. Der Spucker mit den irren dunklen Augen ist Kommissar, der andere (blaßblaue, kleine, harte Augen, vorspringende Nase, Hütl auf dem blonden Kopf) hat als Sturmbannführer Hauptmannsrang; sie heißen Weser und Clemens.
20. August, Donnerstag mittag
    Frau Pick hat zum zweitenmal, und diesmal mit Erfolg, Selbstmord verübt. Veronal. Angst vor Gestapomißhandlung beim Abtransport, vielleicht auch Angst vor dem unbekannten Theresienstadt. Sie war in den letzten Tagen überlebhaft, führte abends fast allein das Wort, sagte häufig, man müsse »darüber hinwegdenken«, »darüber hinwegreden«. Daß sie Andenken verschenkte – ihres Mannes Mondstein-Frackhemdknöpfe für ihre Nichte Gaehde, ein schwarzes Überjäckchen für Eva (die es zu Joachimsthals Leichenfeier ausgeliehen hatte und nun für Frau Pick tragen wird) – das konnte bei der Evakuierung nicht auffallen. – Wieder kam Ida Kreidl morgens herauf. Eva ging als erste hinunter, um sieben Uhr, und sagte mir dann, diesmal sei es ernster, sie röchle stark. Eine Viertelstunde später war ich unten, da war schon kein Laut mehr, Mund offen, ein Auge offen, offenbar Tod. Wieder telefonierte ich vom Gärtner Mickley aus, dem ich das ganze Elend erzählte. Ich sagte zu Katz, Frau Pick sei offenbar tot; er: Er komme gegen elf Uhr. Nachher hatte ich Gewissensbedenken: Ich konnte den Tod nicht mit Sicherheit feststellen,vielleicht war doch noch Rettung möglich – zum Glück für Frau Pick? Ich telefonierte also noch einmal: Katz erwiderte, wenn sich die Natur nicht helfe, so könne er auch nicht helfen, zum Auspumpen sei es bestimmt zu spät. Als er später kam, war schon Leichenstarre eingetreten.
    In diesen letzten Monaten lernte ich immer wieder: Seit Esra gebe es die eigentliche jüdische Religion, das »Gesetz«, die vielen hundert Vorschriften, die den Juden durch alle Stunden des Tages in jeder kleinsten Handlung an seine Religion binden, an Gott erinnern. Die Gestapo ist wie Esra. Ich möchte einmal den Stundenplan des Alltags (ohne Außergewöhnliches wie einen Mord oder Selbstmord oder eine Haussuchung) festlegen. Im Aufwachen: Werden »sie« heute kommen? (Es gibt gefährliche und ungefährliche Tage – Freitag z. B. ist sehr gefährlich, da vermuten »sie« schon Sonntagseinkäufe.) Beim Waschen, Brausen, Rasieren: Wohin mit der Seife, wenn »sie« jetzt kommen. Dann Frühstück: alles aus den Verstecken holen, in die Verstecke zurücktragen. Dann die Entbehrung der Zigarre; die Angst beim Teepfeiferauchen, das nicht gerade ins Gefängnis führt, aber doch Prügel einträgt.

Weitere Kostenlose Bücher