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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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diese Bedrücklichkeit.
9. Oktober, Sonnabend vormittag
    Seit dem 9. 10. 34 sagte ich an jedem Geburtstag: »Nächstes Jahr sind wir frei!« Es stimmte nie. Diesmal sieht es so aus, als müßte das Ende nahe sein. Aber sie haben sich so oft, vom Röhmfall an, gegen alle Naturmöglichkeit gehalten; warum sollten sie nicht noch weitere zwei Jahre Krieg führen und morden? Ich habe keine Zuversicht mehr. Inzwischen werden wir nun ins dritte Judenhaus ziehen und diesmal den Kopf in die engste Schlinge stecken. In der Zeughausstraße wird der zusammengepfropfte Judenrest in ein paar Minuten erledigt, wenn es der Gestapo paßt.
    Seit dem letzten Abtransport der Juden ist die Kleiderkammer staatsverfallen und beschlagnahmt. Jetzt teilte Neumark, der Vertrauensmann, mit: »Der Herr Oberfinanzpräsident Dresden, der die Bestände der hiesigen Kleiderkammer übernommen hat, hat sich bereit erklärt, einmalig vor ihrer Verwertung den keine Kleiderkarte besitzenden Juden zu dringend erforderlichen Anschaffungen Gelegenheit zu geben …« Mein Antrag, den Bedingungen des Rundschreibens angepaßt, lautet wörtlich: »Dem Rundschreiben vom 6. 10. 43 entsprechend bitte ich ergebenst um folgende Stücke aus der Kleiderkammer: 1) eine Arbeitshose (in meinem Besitz eine völlig zerschlissene, nicht mehr reparable). 2) ein Pullover (Besitz: ein gänzlich aufgebrauchtes durchlöchertes Stück). 3) vier Paar leichte Socken (Besitz: drei Paar wiederholt gestopfte, nicht mehr zu reparierende). 4) ein Hosenträger (Besitz: ein unvollständiger, mit Bindfaden ergänzter). Ich versichere die Wahrheit meiner Angaben, und daß ich keine Kleiderkarte besitze.«
14. Oktober, Donnerstag vormittag und später
    Seit Sonntag kämpfte Eva mit Erkrankung, lag viel. Ich informierte die sehr verständige Portierfrau – wie gut, daß Hildegard Rasch Evas Schülerin! –, sie war gleich im Bild. Ich darf für Eva keinen jüdischen Arzt haben, ein arischer wird mich Besternten kaum vorlassen, vielleicht die Behandlung Evas ablehnen,überlastet sind alle Ärzte, Fetscher wohnt zu weit entfernt, nach Möglichkeit möchte ich keinen Nazi … Frau Rasch ging telefonieren. Resultat: Dr. Poetzsch werde kommen, er habe schon »Herrn Alexander« (Jacoby, einen verstorbenen Sohn der Hausbesitzerin) behandelt. Er kam gegen zwölf, ein biederer, gemütlicher alter Sachse und typischer Onkel Doktor alten Stils.
    Wir werden also am 30. 10. nach der Zeughausstraße 1 übersiedeln. Eva hat die Zimmer gesehen, die Verhandlungen geführt. Ich friere hier bei unbetätigter Dampfheizung über alle Maßen; auf dem eisigen Frühweg sah ich heute Reif unter starkem silbernem Vollmond und silbernem Nebel. (Auf dem Rückweg in der Emser Allee, wo ich immer einige Kastanien für die Eisenmann-Kinder auflese, fand ich 26 Kastanien.) Unsere Zimmer in der Zeughausstraße sollen sonnig nach Süden liegen und Ofenheizung haben; hier sitzen wir in Nordlöchern bei stillgelegter Zentralheizung. Aber ich fürchte den Klatsch der zusammengepferchten Judenschaft; ich habe den Vorgeschmack davon bei Schlüter. Jeder mißtraut dem andern, verketzert ihn hinter seinem Rücken.
16. Oktober, Sonnabend, abends zehn Uhr
    Vor etwa fünf Stunden habe ich Eva verlassen; der Krankenwagen fuhr in das Stadtkrankenhaus Fürstenstraße ein, das ich nicht betreten durfte. Sie war relativ frisch und derb heiter, aber ich kann den furchtbaren Gedanken nicht loswerden, sie vielleicht zum letztenmal gesehen zu haben. Es sitzt als Druck in mir, darüber Hunger, Langeweile, egoistisches Ausmalen meiner Deportation, wenn die arische Ehefrau stirbt, Gewißheit, zum Selbstmord zu feige zu sein, Überlegungen, was ich dann anfange – ich habe sie gefragt, wo sie meine Manuskripte aufbewahrt (in der »Schule der Fingerfertigkeit«) – Gefühl absoluter Leere, und immer unter alledem, beim Essen, Lesen, bei jeder Beschäftigung der rein körperliche Druck. Ich bin nichts ohne Eva, und ich werde doch aus purer unsinniger Todesangst ein sinnloses Leben weiterschleppen, wenn ich sie verliere.
    Gestern abend sagte Frau Eisenmann, so gehe es nicht weiter, ich müßte mich noch einmal mit Dr. Poetzsch in Verbindung setzen. Heute früh wieder 39,7 Grad, ich ließ ihn durch Frau Rasch anrufen, gleich darauf stieg das Fieber auf 40,2. Mittags kam er. »Ich rate dringend zum Krankenhaus, ich schicke Ihnen einen Krankenwagen.«
31. Oktober, Sonntag abend
    Am Sonnabend, 24. 10., hat sich Eva »gegen Revers auf eigene

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