Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
korrespondieren mag, und wieviel Wirklichkeit die da und dort eintreffenden Nachrichten enthalten, das ist auch ganz unklar. Jedenfalls scheinen sich Hirschels noch Schlimmeres erwartet zu haben. Eva sagt, Frau Hirschel sei sehr gefaßt gewesen und habe diese Gefaßtheit wohl nicht nur gespielt. Ich habe ihr sagen lassen – denn ich weiß, was ihr wohltut –, ich sei ihr für viele Anregungen Dank schuldig, und wenn ich noch einmal zum Publizieren käme, würde ihr Name in meinem Opus eine Rolle spielen.
22. Juni, Dienstag vormittag
Trostlose Öde der Tagschicht, auch vom Radio nicht gemildert. Ein neuer Mann ist hinzugekommen: Jacobi, der Friedhofsverwalter.
Aris erzählte, er unterrichte seine beiden Kinder, das älteste neun Jahre, selber, damit sie »nachher« gleich in eine höhere Schule könnten. Ebenso sagte mir Eisenmann sen., daß er die neunjährige Lisel selber unterrichte. Eine ungeheure Schmach ist das Schulverbot. Die Juden sollen eben in Analphabetismus absinken. Es wird den Nazis aber nicht gelingen.
23. Juni, Mittwoch mittag
Eva hat begonnen, Lisel Eisenmann und Hildegard Rasch, die Portierstochter, in Anfängen des Klavierspiels zu unterrichten. Wenn das arische Mädel sich dessen rühmt, wenn die Geschichte durchsickert, kostet sie Eva und den Portiersleuten Gefängnis, mich via KZ das Leben. Sofern nicht von Kuppelei und Verführung Minderjähriger geredet wird: Dann endete Eva im KZund ich unter der Guillotine. Das sind keine wilden Phantasien, sondern realste Möglichkeiten. »Ich habe bei der Wanderung immerzu Fingerübungen auf dem Arm gemacht«, erzählte das Mädel. Ich warne die Mutter. »Sie hält bestimmt den Mund, ich geige ihr’s immer wieder ein«, sagt Frau Rasch. – Eine andere Gefahr: Eva hat die Kartoffelkarte der Frau Hirschel übernommen, die Lieferantin ist im Bilde und gutwillig. Es handelt sich um 140 Pfund. –
Gestern abend in der Wormser Straße radelt ein älterer Arbeiter – soweit ich das im Dämmerlicht erkennen konnte – hinter mir her, dicht an mich heran und sagt mit gutmütiger, väterlicher Stimme: »Es kommt auch schon mal wieder anders, nicht wahr, Kamerad? … Hoffentlich recht bald« – worauf er im Bogen zurückfährt und in eine Seitenstraße biegt … Vorgestern dagegen kommt mir mittags eine Familie entgegen, Vater, Mutter, kleiner Junge, offenbar »bessere Leute«. Der Vater sagt belehrend (laut) zum Kleinen, wohl auf dessen Frage antwortend: »Damit du weißt, wie ein Jude aussieht«. Welches ist nun die richtige Vox populi? Im Schlüterwerk möchte ich immer annehmen: die freundliche. Vorgestern griff eine schmächtige, armselige Arbeiterin nach einer Kiste, die ich heben wollte. »Lassen Sie, Herr, ich kann das besser, ich kenne die Griffe.« –
24. Juni, Donnerstag mittag
Vox populi: Eine Gruppe radelnder Jungen, vierzehn bis fünfzehn Jahre, um zehn abends in der Wormser Straße. Sie überholen mich, rufen zurück, warten, lassen mich passieren. »Der kriegt einen Genickschuß … ich drück’ ab … Er wird an den Galgen gehängt – Börsenschieber …« und irgendwelch Gemauschel. Es hat mich tiefer und nachhaltiger verbittert und schwankend gemacht, als mich den Abend vorher die Worte des alten Arbeiters erfreuten. –
12. Juli, Montag mittag
Evas Geburtstag. Ich habe kein Geschenk für sie. Aber ich habe am Vormittag die Küche gescheuert, daß mir jetzt die Hände zittern, und sie bekommt die 200 Gramm Fleischmarken, die mir der Nachtdienst einbringt, 150 in Marken, den Rest in natura.
2. August, Montag vormittag, 11 Uhr
Ganz harmloser Verlauf: »Du hast Möbel bei Thamm? – Was?« – »Heiratsgut meiner arischen Frau, eine Orgel meiner Frau, fachwissenschaftliche Bibliothek.« – »Kannst du die Sachen nicht anderswo unterbringen? Wir sollen die Lagerräume nach Möglichkeit freimachen.« – »Wenn Sie es anordnen, will ich es natürlich versuchen – aber wohin? Am Lothringer Weg wäre Platz, aber ich weiß nicht, wie lange ich dort bleibe.« – »Naja, erledigt. Kennst du eine Frau Huberti in Pirna?« – »Nein.« – »Kennst du …« zwei andere Namen, einer davon mir unter den Selbstmördergräbern aufgefallen. – »Nein, ich habe nie der Jüdischen Gemeinde angehört, ich kenne niemanden.« – »Erledigt.« – »Darf ich gehen?« – »Ja.« Das Verhör hatte fünf Minuten gedauert, das Warten eine reichliche Viertelstunde: 7.40 Uhr sah ich die Bahnhofsuhr und das Leben wieder, dem ich mich seit Sonnabend schon
Weitere Kostenlose Bücher