Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
recht entrückt gefühlt hatte.
Tapfer gehalten habe ich mich diesmal wirklich, vielleicht war es auch nur Stumpfheit. Es kam diesmal bei mir nicht einmal zu ernstlichem Herzklopfen, zu eigentlichen Angstzuständen. Dabei graute mir vor der Gefängniszelle, vor wochenlanger Haft, vor Ermordung. All das lag ungeheuer nahe.
Die Behandlung in der Bismarckstraße ähnlich wie vor zwei Jahren. Der Portier ganz sachlich: »Da hinter der Treppe warten.« Ein Gestapokerl neben dem Schalter: »Scher dich nach hinten, du Schwein!« Oben in dem »milderen« Zimmer 68 ein langer Subalternbeamter am Schreibtisch ziemlich sachlich, nicht aggressiv, ein kleiner Kerl in der Tür höhnisch und grob. – »Du warst wohl noch nicht hier, dich haben sie vergessen? Du hast laut und deutlich zu sagen: ›Ich bin der Jude Victor Israel Klemperer.‹Jetzt gehst du heraus und kommst wieder und sagst es …« Geschieht. – »Was warst du früher?« – »Professor? Hast zwanzig Semester studiert! Sieh mich nicht mit so dummen Augen an, sonst hau ich dir eine, daß du Pfingsten nicht von Ostern unterscheidest.« – »Was warst du im Kriege?« – »Kriegsfreiwilliger? Mit Auszeichnungen?« – »Bayrisches Verdienstkreuz mit Schwertern.« – »Nicht einmal das Eiserne Kreuz als Kriegsfreiwilliger?« – Ich stehe dicht vor der Tür, er will hinaus, stößt mich mit seinem Notizbuch in die Seite, daß ich ein wenig gegen ein Seitenregal falle, stößt mich mit einem Ruck ins Kreuz dichter an den Schreibtisch des Fragers. Aber diese Püffe sind mehr scherzhafter Art, so scherzt die Gestapo. Als ich gegen neun Jacobi den versprochenen kurzen Bericht gebe, sagt er: »Das war der Obersekretär Müller, der Sie angepflaumt hat. Ein gutes Zeichen für die Harmlosigkeit Ihrer Vernehmung. Im Ernstfall sind die Leute todernst. – Nichts erzählen, besonders keinem den Namen der Frau in Pirna. Wahrscheinlich waren Sie derentwegen hinbestellt. Kommt es heraus, daß Sie davon erzählt haben, so bestellt man Sie noch einmal, und dann geht es Ihnen schlechter.« –
12. August, Donnerstag spätnachmittag
Die unregelmäßige Frühschichtwoche sieben bis sechzehn Uhr mit zwei halben Stunden Pause um neun und halb eins, einmal mit Überstunde bis siebzehn Uhr. Im Packraum des ersten Stockwerks am Dienstag Natriumtüten zu je 180 Gramm gefüllt, ähnlich wie ich vordem Tee füllte, nur daß dies Zeug (Bestandteil eines Heilbades) heftig alle Schleimhäute reizt. Am Mittwoch ebenso friedlich begonnen. Während der ersten Pause erschien Schlüter, redete leidenschaftlich, eine Kommission aus Berlin werde am Montag über die Fortexistenz seines Betriebes entscheiden, bis dahin müßten die verräucherten und verfallenen Räume geweißt sein; Handwerker seien nicht zu haben; wenn wir ihn unterstützten, würde er uns Treue halten!
2. September, Donnerstag mittag
Gestern seit langem der ödeste Tag bei Schlüter. Erbarmungslos eintöniges, ununterbrochenes Teefüllen, 100 Gramm zu 100 Gramm in infinitum. Neben mir Feder an der Waage. Schleichende Uhr. Das Radio: Störung, Schwund, Gedudel. Ein halbes dutzendmal dieselben verlogensten und verschwiegensten Heeresberichte wiederholt, einmal in tödlicher Langatmigkeit für die Front diktiert . Der vornächtliche Angriff auf Berlin bagatellisiert, im Osten zerschossene Panzer der Sowjets gezählt, italienische Berichte comme si de rien n’était. Man könnte verzweifeln und an ein volles fünftes Kriegsjahr glauben.
29. September, Mittwoch mittag
Notierte ich, daß Schlüter endgiltig am 31. 10. schließt? Eine große Bedrohung für die jüdischen Arbeiter. Man wird sie in die berüchtigte Kartonagenfabrik von Schwarze stecken. Endloser Weg (Leipziger Straße), schlechte Behandlung, keine Langarbeiterkarte, zehn Stunden Arbeitszeit. Ich weiß das von Lewinsky, der dort arbeitet, auch ist es communis opinio.
Nun will ich endlich an Hitlers »Mein Kampf« gehen, der seit Wochen hier liegt. Die ersten Seiten las ich vor längerer Zeit auf Glasers Balkon.
1. Oktober, Freitag
Heute früh die längst erwartete und doch überraschende böse Nachricht der angeordneten »Umsiedlung«. Wir sollen mit Eisenmanns zusammen in die ehemalige Hirschelwohnung, Zeughausstraße 3, gesteckt werden. Für sieben Personen eine unzulängliche Heringstonne von dreieinhalb Zimmern, auch sonst mit schweren Nachteilen behaftet. Eva will morgen mit Neumark, dem »Vertrauensmann« des Dresdener Judenrestes, konferieren. Dann mehr über
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