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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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25. Dezember, Sonnabend vormittag, Weihnachten
    Gestern, am 24. 12., um halb vier früh, zwei Minuten vor meinem Wecker: Fliegeralarm. In den Keller. Unser Luftgepäck bestand wieder nur aus Evas Notenmanuskripten. Ich fügte dies einzige Notizblatt hinzu, das wir im Hause hatten. Im übrigen muß man wohl schicksalsgläubig sein. Der Alarm dauerte fastzwei Stunden, wieder ohne daß irgend etwas erfolgte. Aber die Angst hier wächst ständig.
    Am späten Nachmittag kam Frau Winde als rührender Weihnachtsmann. Eßwaren, zwei Zigarillos, die ich schwersten Herzens Berger schenkte – ich fürchte mich vor dem Rauchen, entbehre es und halte die Entbehrung für sinnlos –, ein Paar mir wunderbar passende Skistiefel ihrer Söhne – das Schuhzeug, das ich neulich von der Gemeinde erhielt, ist ebenso dünn und oben durchgescheuert wie das in meinem Besitz befindliche. –
31. Dezember, Freitag neunzehn Uhr
    Résumé 43: Seit April Fabrikarbeit, immer völligeres Stocken der eigenen Arbeit; seit 1. November – Wechsel von Schlüter zu Möbius – Aufhören aller Studien und Lektüre. Im Oktober Evas Erkrankung, am 13. Dezember Umzug in die Zeughausstraße. Vor wenigen Tagen Todesurteil: Katz bestätigt mir »echte Angina«.
    Wir sind beide völlig abgekämpft. Die Fabrik schloß um drei. Danach scheuerte ich hier noch die Treppe. Und Eva kam zerschlagen von Einkauf- und Fechtwegen zurück. Ich mache uns bloß noch ein paar Pellkartoffeln. Wir haben eben erst Kaffee getrunken und wollen baldmöglich zu Bett. Silvester 43!

1944
5. Januar, Mittwoch früh nach sechs Uhr
    Ich versuche morgens, ein paar Zeilen zu fixieren; nachmittags bin ich müde zum Einschlafen und von Wirtschaft in Anspruch genommen. – Die Zeit in der Fabrik geht gar nicht so quälerisch langsam; aber mich kränkt der Stumpfsinn, die unwiederbringlich vergeudete letzte Spanne, das Stumpfgewordensein. Ob ich Pappe hacke oder Briefbogen zähle – semper idem. Es gibt im jüdischen Betrieb zwei Aristokratien: die der Privilegierten und die der Maschinenführer. Ich bin weder das eine noch das andere, ich stehe in besonders schlechter Schätzung bei den Meistern, ich bin wirklich der »letzte Mann«.
12. Januar, Mittwoch früh vor sechs Uhr
    Fahrterlaubnis erhalten ohne weitere Untersuchung durch Vertrauensarzt. Wie tödlich dürfte Katz’ Zeugnis sein! Ich will nur bei allerschlechtestem Wetter fahren.
17. Januar, Montag früh vor sechs Uhr
    Die Luftschutzübung war kurz. Wir kletterten durch die uns angewiesenen Fenster ins Freie. Dies »Freie« ist der Hofraum vor den Russenbaracken, die im Ernstfall wie eine Fackel brennen werden. Es war auch eine, eine Gasmaske da, von der niemand wußte, wie sie aufzusetzen sei. Vor dem Aussteigen hatten die jüngeren Leute wenige Minuten lang eine Eimerkette bilden geübt. Mir kommt das alles wie unzulänglichste Spielerei vor, und ich stehe dem Ernst völlig fatalistisch gegenüber. Aber die allgemeine Sorge steckt uns doch allmählich an, man hört zuvielGrausiges aus Berlin und Leipzig. Jetzt hat sich Eva noch einen besonderen Rucksack aus Vorhangstoff gemacht, so daß wir gestern mit zwei Rucksäcken antraten.
22. Januar, Sonnabend vor sechs Uhr früh
    Von halb vier bis zehn, halb elf völlig leere Ausfüllung, Fabrik und Wirtschaft – keine Lektüre, kein Tagebuch, dabei ständige schwere Müdigkeit. In der Fabrik das Qualvollste: abzählen; ich beginne das gleiche Päckchen ein dutzendmal.
    Das Neueste: der kleine Alarm. Drei kurze Entwarntöne; Bedeutung: Halte dich bereit, ohne in den Keller zu gehen. Er kam am Donnerstag um acht Uhr abends – Katz wollte uns gerade einen Besuch machen und suchte nun schnell nach Haus zu kommen. Entwarnung nach einer halben Stunde.
23. Januar, Sonntag vormittag gegen elf Uhr
    Der gestrige »freie« Nachmittag durch Bekohlung zerstört. Ich lieh mir zum Kohlenkauf einen Handwagen im »Wagenverleih« und Holzverkauf am Hasenberg neben den Russenbarakken. Von da zu Hesse in der Salzgasse, von Hesse wieder zu uns ist nicht weit, aber der Wagen ist schwer, es gibt ein paar kleine Steigungen, und mein Herz rebelliert. Es gelang mir mit meinen drei Zentnern nicht, die Steigung zur Toreinfahrt zu nehmen. Da stürzte lachend und schreiend ein junger Kerl von den kriegsgefangenen Russen hinzu, öffnete mit einem Ruck den zweiten Torflügel, stemmte mit Leichtigkeit und immer lachend den Wagen in den Hof und machte sich davon. (Verkehr verboten! – Allgemeine Gutmütigkeit

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