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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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von Richter erhalten, fährt sie nur noch ganz selten hinaus. Jedesmal eine besondere Furcht und eine besondere Gewissensbelastung für mich. Wofür exponiere ich Eva? Vanitas!
20. Mai, Donnerstag vormittag
    Vox populi: »Fräulein Hulda«, die gutmütige, dürre arische Hausgenossin, già Stütze der Frau Jacoby, jetzt Flaschenspülerin in einer Fabrik, sagte: »Der Krieg kann nicht mehr lange dauern, wir haben ja nichts mehr – Afrika verloren und die Fleischration um 100 Gramm wöchentlich gekürzt.« Das ist charakteristische Zusammenstellung. Wobei die 100 Gramm stärker wirken als Afrika.
    In der Nacht vom 15. zum 16. ganz kurzer Fliegeralarm, der zweite in diesen Tagen. Im immer verschonten Dresden herrscht völlige Sorglosigkeit.
1. Juni, Dienstag früh
    Lewinsky erzählte am Sonntag als ganz verbürgtes und verbreitetes (von Soldaten herrührendes) Gerücht: es habe in Warschau ein Blutbad gegeben, Aufstand der Polen und Juden, deutsche Panzerwagen seien am Eingang der Judenstadt durch Minen zerstört worden, darauf habe man deutscherseits das gesamte Ghetto zusammengeschossen – tagelange Brände und Abertausende von Toten. Ich fragte gestern mehrere Leute bei Schlüter danach. Antwort im Flüsterton: Ja, das hätten sie so und ähnlich gleichfalls gehört, aber nicht weiterzugeben gewagt. Eva, vom Zahnarzt kommend, berichtete, Simon stelle den Vorgang mit Bestimmtheit derart dar, daß an diesem Aufstand auch 3000 deutsche Deserteure teilgenommen und daß sich lange, wochenlange (!) Kämpfe ergeben hätten, ehe man deutscherseits Herr geworden sei. Simons Glaubwürdigkeit ist gering. Immerhin: daß solche Gerüchte im Umlauf sind, ist charakteristisch. Simon habe hinzugesetzt: Auch in den andern besetzten Ländern herrsche Unruhe.
4. Juni, Freitag vormittag
    Immer wieder beobachte ich das durchaus kameradschaftliche, unbefangene, oft geradezu herzliche Benehmen der Arbeiter und Arbeiterinnen den Juden gegenüber. Gewiß, irgendwo wird immerein Spitzel oder Verräter zwischen ihnen sein. Aber das hindert nichts an der Tatsache, daß sie in ihrer Gesamtheit bestimmt nicht Judenhasser sind. Trotzdem halten einige unter uns immer daran fest, daß alle Deutschen, auch die Arbeiter, durchweg Antisemiten seien. Eine um so unsinnigere These, als ja ihre Vertreter in Mischehe leben. Gestern ging es zwischen den (meist älteren) Frauen des Nachbarsaales und unseren Leuten besonders ausgelassen zu. Was wäre geschehen, wenn im Augenblick des Alberns, Johlens und der vergnügten Handgreiflichkeiten, die man auch als Zärtlichkeiten hätte auslegen können, Gestapo oder ein Spitzel die Tür geöffnet hätte. Die Tonerti, eine Arbeiterin, schlägt gegen einen Haufen Kartons. »Sind ja noch alle leer. Bluff, meine Herrn, Bluff!« Die zweite Arbeiterin: »Was ist heute nicht Bluff? Ein Kleid steht im Schaufenster. Gehen Sie in den Laden und verlangen Sie ein Kleid. Oder sonst etwas! Nichts ist da, Bluff, alles Bluff!« Ein Jude, freudig: »Meckern verboten!« Arbeiterin eins: »Wo ist hier eine Ziege? Ich sehe keine.« Arbeiterin zwei: »Und wenn nun Sie die alte Ziege sind?!« Freundschaftliches Ringen der beiden Frauen. Der Chemiker Frank schwingt seine kleine Teeschaufel wie einen Dolch und stürzt sich zwischen die Ringenden … Wie wenig Phantasie gehört dazu, die Szene zur Katastrophe fortzuführen …
12. Juni, Sonnabend nachmittag
    Am Donnerstag nachmittag also brachte Eva erste Nachricht. Am Abend bei Schlüter wußte man, daß Strelzyn, der Goldschmied, bei Kahlenbergs wohnend, beurlaubt sei, um beim Packen zu helfen, denn Kahlenbergs und Hirschels würden »morgen« evakuiert. Am Freitag morgen erhielt Eva einen sehr freundlichen Abschiedsbrief von Frau Hirschel, in dem uns noch Kartoffeln übereignet wurden. Daraufhin getraute sie sich in Hirschels Wohnung und brachte dies in Erfahrung: Hirschel und Kahlenbergs, Mutter und Sohn, befinden sich bereits seit Donnerstag im PPD. Frau Hirschel mit den Kindern hat man in ihrer Wohnung gelassen. Gleich nach Pfingsten werden dieseletzten nicht in Mischehe lebenden Juden nach Theresienstadt abgeschoben. Theresienstadt gilt als Vergünstigung und ist es wohl auch Polen gegenüber, trotzdem auch diese Deportation völligen Vermögensverlust und Sklaverei bedeutet. Was es in Wahrheit mit Theresienstadt auf sich hat, ob dort gehungert und gestorben oder halbwegs menschlich gelebt wird, weiß niemand genau; die spärlich herausdringenden Nachrichten – wer mit wem

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