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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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nichts zu befürchten, er denkt in diesen Dingen noch radikaler als ich. Nur bitte ich Sie dringend, nicht zu sagen, daß Sie es gut bei uns haben. Im Gegenteil, Sie müssen über schlechte Behandlung klagen; sonst bekommen wir Scherereien, und Sie haben erst recht den Nachteil davon. Schlüter ist im wesentlichen daran gescheitert, daß man ihm Judenfreundlichkeit nachsagte …« Wir gingen zum Jagdweg, nach einer Weile kam auch Bauer dorthin; wir wurden in unsern Gefolgschaftssaal geführt, nach einer Weile erschienen Möbius und Dr. Lang. Auch Möbius ein Mann in den Dreißigern. Er sprach noch freundlicher als Bauer, er reichte jedem von uns die Hand, fragte jeden nach seinem Beruf; bei mir sagte er mit einer kleinen Verbeugung, er wisse schon … – Wir bekommen nun in aller Heimlichkeit das Essen umsonst, in aller Heimlichkeit Kartoffeln, die Möbius selber vom Land hereingeholt hat. Wir bekommen 68 Pf Stundenlohn, obwohl die etlichen 50 des Frauentarifs gezahlt werden können und sollen.
12. Dezember, Sonntag nachmittag
    Chaos des Umzugs. Eva arbeitet viel und allzuviel. Ich habe bisher meine Bücher gepackt und die Küche gescheuert. Sehrmüde und sehr deprimiert. Wir hätten hier herausgemußt auch ohne den Zwang des Judenpapstes Köhler: Die Kohlen für das leere Haus sind zu Ende, und wir frieren übermäßig. Aber nach der Zeughausstraße ziehe ich in verzweifelter Stimmung. Das Haus, in dem wir einmal zu einem Schweineschlachtfest-Essen bei Fleischhauers waren, ist jetzt ein Teil des Gemeindehauses (Zeughausstraße 3 und 1). Nun sind wir ganz in der Hand der Gestapo, ganz eingejudet. Und nun sind wir auch, wenn der erwartete Luftangriff kommt, genau in Zentrum und City. So beginnt also morgen die dritte Phase unseres Passionsweges durch das 3. Reich. Zeughausstraße 1 und 3 sind sozusagen potenzierte Judenhäuser, Quintessenzen eines Judenhauses.
    Drittes Judenhaus: Zeughausstraße 1 III
14. Dezember, Dienstag mittag
    Das Schlimmste hier die Promiskuität . An eine Diele stoßen die Türen dreier Ménages: Cohns, Stühlers, wir. Badezimmer und Klo gemeinsam. Küche gemeinsam mit Stühlers, nur halb getrennt – eine Wasserstelle für alle drei – ein kleiner anstoßender Küchenraum für Cohns. Zwischen Cohns und Stühlers starke Spannung, Cohns warnten mich vor Frau Stühler, ich sollte nur gleich und schroff meine Rechte beanspruchen und abgrenzen. Es scheint aber nicht so schlimm zu sein, Stühlers bemühen sich freundlich um uns, ich mußte eine Weile in ihr Zimmer.
    Trotzdem: die Promiskuität. Es ist schon halb ein Barackenleben, man stolpert übereinander, durcheinander. Und die ganze Judenheit auf einem Haufen; natürlich kommunizieren Zeughausstraße 1 und 3.
    Viele der Leute, mit denen wir gern im Frieden lebten, sind untereinander verfeindet, verketzern sich. Cohn schimpft auf Stühlers – »es sind eben Bayern!«, Konrad und Berger toben gegeneinander.
18. Dezember, Sonnabend vormittag
    Von Katz zurück. Eine Art Todesurteil mit kleinem Aufschub. »Echte Angina pectoris.« Er will mich Montag noch durchleuchten. Blutdruck unter normal (140): Herzmuskelschwäche. »Viel Wärme, wenig laufen, nicht schwer heben.« Lauter Dinge, die ich mir nicht verschaffen kann. Ich bin völlig erschöpft, schlafe ständig im Sitzen ein, friere ständig. Da Eva im gleichen Elendzustand, sind Reibungen unvermeidlich. Das Chaos und die Promiskuität verschärfen alles. – Ich kann nun auch noch den Montag der Fabrik fernbleiben, aber ich tue es mit schlechtem Gewissen – wir brauchen ja den Tageslohn!
20. Dezember, Montag abend
    Stühlers, die bayrischen Zimmernachbarn, haben einen netten Jungen von noch nicht vierzehn Jahren. Der Vater hat den 1930 Geborenen bei der Jüdischen Gemeinde eintragen lassen; so muß er jetzt trotz der katholisch-arischen Mutter den Stern tragen. Er hat in der Schule der Jüdischen Gemeinde Volksschulbildung erhalten, auch die nicht ganz, nur in den Elementen, denn die Schule wurde geschlossen. Er hat dann Privatunterricht gehabt: Anfänge des Französischen, Englischen und Spanischen; sein Lehrer kam ins KZ und starb dort. Er arbeitet jetzt, um beschäftigt zu sein, täglich von acht bis zwölf bei Bauer, als »Arbeiter«, denn Lehrling darf er nicht sein. Ich will dem frischen und vergnügten Jungen ein bißchen französischen Unterricht geben.
    Ich will immer weiter notieren, obwohl es nun sehr unwahrscheinlich geworden, daß ich meine Notizen noch einmal werde ausnutzen

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