Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Verantwortung ungeheilt« entlassen und im Krankenwagen zurückschaffen lassen. Sie kam hier gegen sechs an, ich war im Betrieb (Dienstzeit 18 bis 24 Uhr), unsere Wohnung abgeschlossen. Eva wurde zu Eisenmanns gebettet, und Herr Rasch holte mich von Schlüter, als wir noch vor Beginn der Arbeit im Eßraum saßen. Eva, auf einem Stuhl heraufgetragen, war sehr schwach, sehr weich, sehr selig, dem Krankenhaus entkommen zu sein.
Die ganze Woche über Schlüters Kampf, an Agonie grenzend, gestern, Sonnabend, die fulminante Abschiedsrede an die Arier – »die jüdischen Mitkameraden – das darf ich wohl sagen, wir sind alle Menschen! – bleiben noch ein bis zwei Monate.« Freude und Beruhigung. Heute mittag erscheint hier Strelzyn: Befehl des Arbeitsamtes über die Gemeinde: Schlüter ganz stillgelegt, die jüdische Gruppe verstreut, ich morgen früh zu Bauer, Neue Gasse. Ich war also bei Schlüter vom 19. 4. bis 30. 10. 43. Sehr deprimiert.
14. November, Sonntag mittag und später
Evas langwierige Rekonvaleszenz. Sie kann für halbe Stunden aufstehen, aber noch nicht in die Kellerküche. Ich bin völlig in Anspruch genommen; unmöglich, eine Seite zu schreiben. Chaos auf dem Schreibtisch, in der Schublade alles »obenauf gelegt«. Für das Tagebuch wenige Zettelnotizen, kaum entzifferbar. Übrigens große Einförmigkeit des Lebens, Wiederholung der Begebnisse, Stimmungen, Gedanken. Endlosigkeit des Krieges, russische Siege; aber nicht durchgreifende; »Schneckentempo« – neuestes Schlagwort, ich glaube, von Hitler gebraucht.
Seit Montag, 1. 11., in Lohn als »Hilfsarbeiter« bei der Firma Adolf Bauer, Neue Gasse, Kartonagen (Apothekerschachteln und -beutel, besonders imprägnierte Pappdosen für Fette und Salben), von ihr ausgeliehen (s. u.) an Thiemig & Möbius, Jagdweg 10, Papierverarbeitung.
Mein Tageslauf in diesem halben Monat:
Halb vier Wecker. Abwasch, Frühstück, meines meist geschlungen, kurz vor sechs Evas erste Mahlzeit nach oben. 6.15 Uhr, bei Dunkelheit, steige ich in die 18. Fahrtgenehmigung, ein Danaergeschenk. Morgens ist es nur kalt auf dem Vorderperron, aber die Dunkelheit schützt mich. Aber mittags, im Gedränge des übermäßigen Verkehrs, schutzloser als ein Hund. Einmal zupfte mich ein -Offizier im Aufsteigen am Ärmel: »Ihr looft!« Ich mußte zurückbleiben. Das war schlimm. Scheußlicher neulich am 11., dem dies ater der Gehaltseinstellung, mittags in der Marschallstraße, der Perron ziemlich leer. Ein Unteroffizier steigt auf, fixiert mich. (Ich habe die blonde Visage bestimmt schon gesehen. Mir fällt ein: der Gestapobeamte, der mich beschimpfte und in die Seite stieß, als ich wegen der Möbel auf dem Bismarckplatz war.) Nach einer kleinen Weile: »Steig ab!« – »Ich habe Fahrtausweis.« – »Steig ab!« Ich stieg ab, fuhr, ein neues Billett lösend, mit der nächsten Bahn weiter. Seitdem ist die Mittagsfahrt eine Tortur für mich. Von Haltestelle zu Haltestelle erwarte ich ein neues Unheil. – Um sieben beginnt der Dienst am Jagdweg. Arbeitszeit 7–16.15 Uhr. Für die ersten drei Wochen habe ich auf ärztliches Zeugnis über Evas Zustand nur bis 12 Uhr Dienst. Anfangs und in den allerletzten Tagen Handlangerei (Papiere glätten, Kuverts abzählen und einschachteln), dazwischen die längste Zeit an einer Kuvertmaschine. Frühstückspause, genau 15 Minuten, 9–9.15 Uhr, Mittagspause 11.45–12.45 Uhr.
Der Vormittag geht ziemlich rasch hin; die Öde des langen Nachmittags steht mir bevor. Ständiger Albdruck: Wenn das noch ein Jahr dauert! Ich bin jetzt schon so abgestumpft, daß ich die Zeit fast schmerzlos verdämmere.
11. Dezember, Sonnabend vormittag
Am Montag, 1. November, trat ich bei Bauer an. Ein altes, unscheinbares Haus in der Neuen Gasse, aber mit Seiten- und
Hinterbauten. Ein elegantes Chef- oder Versammlungszimmer. Herr Bauer erschien, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, begleitet von unserem Obmann, dem
Nationalökonomen Dr. Werner Lang. Ich hörte nachher, daß die beiden von früher befreundet sind, demselben Sportclub angehörten. Bauer sagte: »Es hat Mühe
gekostet, Sie hierher zu bekommen, denn wir haben genug Männer, sollen Frauen einstellen. Wir haben den Ausweg gefunden, Sie an die Firma Möbius
auszuleihen – Ihre Lohnzahlung geht durch uns, bei uns sind Sie offiziell angestellt, es sollen keine weiteren Firmen als die bisher zugelassenen
Nichtarier beschäftigen. Mein Freund Möbius gehört auch zur, Sie brauchen deshalb aber
Weitere Kostenlose Bücher