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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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durch die offene Tür sah er Männer in schwarzen Hosen und Hemden. Zwei Männer, dachte er, aber vielleicht auch mehr, die von den Rechnern, die nebeneinander auf den Tischen standen, sämtliche Kabel abzogen, die Monitore und Tastaturen und sonstigen peripheren Geräte auf den Boden schmissen und gelegentlich mit langen gebogenen Metallstücken, Brechstangen, auf irgendwas einschlugen. Einer von ihnen hob Jays Ouija-Brett vom Couchtisch auf und betrachtete es neugierig, von vorn und von hinten, als sei es eine Errungenschaft der Technik, die ihm bislang noch nicht untergekommen war. Dann hielt er inne, vielleicht weil er Ryans Blick auf sich gespürt hatte. Schnell kniff Ryan die Augen zu.
    «Tja also, ich überleg mir gerade, dich zu foltern», sagte der Taser-Mann endlich zu Jay. Er hatte eine weiche, besonnene, fast monotone Stimme, die an den DJ eines College-Radiosenders erinnerte. «Hör mir zu. Die einzige Phantasie, die mir geholfen hat, all die Jahre durchzuhalten, war die Vorstellung, Jay Kozelek eines Tages zu foltern. Es war eins der wenigen Dinge, die mich während der ganzen Zeit im Knast glücklich gemacht haben, also versuch mich nicht zu ficken. Ich hab seine Spur bis hierher verfolgt. Ich weiß, dass er hier irgendwo ist. Und wenn du mir nicht sagst, wo Jay ist, werde ich dich foltern, und dein Freundchen hier gleich mit, bis ihr beide Blut kotzt. Okay?»
     
    Ryans Lippen öffneten sich, aber es kam nichts heraus. Kein Ton, nicht einmal ein Hauch.
    Das hier war eine Situation, über die Ryan nie sonderlich viel nachgedacht hatte. Während der ganzen Zeit, in der er und Jay ihrer kriminellen Tätigkeit nachgegangen waren – selbst als er die russischen IMs bekam, selbst als er vor diesen Typen in Las Vegas floh –, hatte er sich nie vorgestellt, jemals an einen Stuhl gefesselt in einer Hütte in den Wäldern von Michigan zu sitzen, während ein Mann sagte: Ich habe mir überlegt, dich zu foltern .
    Er war überrascht, wie unnütz sein Verstand war. Er hatte sich immer vorgestellt, dass sein Gehirn in einer verzweifelten Situation auf volle Leistung schalten würde – seine Gedanken anfangen würden zu rasen –, sein Adrenalin in die Blutbahn schießen – sein Selbsterhaltungstrieb plötzlich einsetzen würde –, aber stattdessen verspürte er eine dumpfe pulsierende Leere, einen flachen Herzschlag, wie die schnelle Atmung eines gestellten Nagetiers. Er dachte an ein Kaninchen, ein kleines Wildtier, das in Reglosigkeit erstarrt, als ob es sich einreden wollte, es sei unsichtbar. Er dachte an Jays Meditations-CDs: Stell dir einen Kreis von Energie vor, nah dem unteren Ende deiner Wirbelsäule. Diese Energie ist stark. Sie verbindet dich mit der Erde …
    Und wie er so dasaß, hatte er das Gefühl, nichts anderes als Erde zu sein. Ein Sack Gartenerde.
    Inzwischen hatte der Mann die Hand in Jays langes Haar gesteckt, und während er redete, wickelte er sich eine Strähne um jeden einzelnen Finger und zog dieses Geflecht strammer, je leiser seine Stimme wurde.
    «Ich war drei Jahre lang im Gefängnis», sagte der Mann. « Gefängnis . Das ist dir vielleicht nicht klar, Mann, aber so ein Gefängnisaufenthalt hat die Eigenart, einen irgendwie bösartig zu machen. Und weißt du was? Tag für Tag und Monat für Monat gab es nur eines, was mich glücklich gemacht hat: mir Möglichkeiten auszumalen, wie ich deinem Freund Jay wehtun könnte. Ich hab viel darüber nachgedacht. Manchmal habe ich einfach die Augen zugemacht und mich dann gefragt: Was müsste man mit Jay tun? Ich habe mir sein Gesicht vorgestellt und wie er aussehen würde, wenn er an einem Stuhl festgebunden wäre, und dann fragte ich mich: Was wäre das Schlimmste? Was würde ihm die größten Schmerzen bereiten?»
    Der Mann schwieg nachdenklich, ein ganzes Büschel von Jays Haaren um die Finger geflochten, immer straffer gespannt.
    «Und deswegen wirst du verstehen –», sagte der Mann. «Die Tatsache, dass ich Jay nicht habe, macht mich richtig stinkig.»
    Mittlerweile fand Ryan das Gespräch surreal und unverständlich, aber es fiel ihm schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als den Ausdruck im Gesicht seines Vaters, Jays gebleckte Zähne, seinen leeren Kaninchenblick.
    Ryan vermutete, dass der Mann vorgehabt hatte, eine Locke von Jays Haar mitsamt den Wurzeln auszureißen, dies aber mehr Kraft erforderte, als er zunächst erwartet hatte. «Au!», schrie Jay, aber die Haare blieben stur an der Kopfhaut haften, und nach

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