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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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einem kurzen Kampf erkannte der Mann, dass eine größere Hebelwirkung oder mehr Muskelkraft erforderlich war, als er bereit – oder imstande – war zu investieren.
    «Gottverdammt», sagte der Mann und schlenkerte stattdessen Jays Kopf kräftig herum, so wie ein Hund das mit einem Lumpen tun würde, und Jays Gesicht bibberte heftig, bis der Mann aufhörte und Jays Haare mit einer theatralischen Geste losließ.
    Er hatte die Haare nicht ausgerissen, aber es hatte immerhin so wehgetan, dass Jay jetzt wimmerte und sich krümmte.
    «Ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen», sagte Jay. «Ich hab keine Ahnung, wo er ist, ich schwör’s.»
    Jay weinte ein bisschen, ein leises kindliches Schnüffeln, ein Zittern der Schultern, und das gab dem Mann offensichtlich zu denken: Jemanden zu foltern war wohl anstrengender, als er es sich ausgemalt hatte.
    «Als ich ihn zuletzt sah, hatte er vor, nach Lettland zu fahren. Nach Rēzekne», sagte Jay ernst und tat einen langen nassen Atemzug durch die Nase. «Er ist schon lange aus dem Rennen, schon sehr lange.»
    Aber das war nicht das, was der Mann hören wollte, und Ryan für sein Teil hatte keine Ahnung, wovon sie eigentlich redeten. Gab es noch einen anderen Jay?
    «Du hast mich nicht verstanden, was?», sagte der Mann. «Du bildest dir ein, du kannst mich mit so einer blöden Scheiße abspeisen, ja?» Und er stieß einen steifen, theatralischen Lacher aus. «Aberr wirr habben Wägä, dich zum Rädän zu bringen», sagte er mit künstlichem russischem Akzent.
    Der Mann steckte die Hand in seine Jacketttasche und tastete darin herum wie jemand, der nach seiner Hasenpfote sucht, und als er den Gegenstand berührte, stellten sich seine Augen wieder scharf, und seine Entschlossenheit kehrte langsam zurück. Seine Miene entspannte sich zu einem kleinen, privaten Lächeln.
    Was er aus seiner Tasche zog, war eine Rolle von dünnem silberfarbenem Draht, und er betrachtete sie mit einem Ausdruck, als erinnerte er sich an ein lange zurückliegendes erfreuliches Erlebnis.
    Jay sagte nichts. Er ließ einfach den Kopf hängen, und sein langes Haar bildete einen Vorhang um sein Gesicht, während seine Schultern sich im Takt seines Atems hoben und senkten. Ein Tröpfchen fiel ihm aus der Nase und auf die Brust seines T-Shirts.
    Aber der Mann bekam das gar nicht mit. Er hatte seine Aufmerksamkeit von Jay abgewandt und schaute jetzt Ryan an.
    «So», sagte er. «Wen haben wir da?»
    Ryan spürte, wie sich die Augen des Mannes auf ihn richteten. Das vorübergehende Gefühl der Unsichtbarkeit verflog, und er sah interessiert zu, wie der Mann das Stück Draht auseinanderrollte. An beiden Enden je ein einfacher Gummigriff. Der Mann neigte den Kopf zur Seite. «Wie heißt du, Mann?», fragte er. Er nahm die Hände beiläufig auseinander und spannte dadurch den Draht, bis er so straff war, dass er wie eine Gitarrensaite vibrierte.
    «Ryan.»
    Und der Mann nickte. «Gut», sagte er. «Du weißt, wie man Fragen beantwortet.»
    Und Ryan wusste nicht genau, was er dazu sagen sollte. Er starrte über den Tisch hinweg und hoffte, Jay würde den Kopf heben, Jay würde ihn ansehen, ihm ein Zeichen geben, ihm irgendwie zu verstehen geben, was er tun sollte.
    Doch Jay schaute nicht auf, und der Mann richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Ryan.
    «Du bist Kasimir Czernewski, nehme ich an?», sagte der Mann.
    Ryan starrte auf die Tischplatte, auf der alte Wasserflecke sich zu einer Landkarte ausgebreitet hatten – einem Kontinent, umgeben von kleinen Inseln.
    Er spürte, wie seine Haut erschauderte – die unwillkürliche körperliche Reaktion, die er sonst mit Nass- und Durchfrorensein assoziierte, aber das hier war richtige Angst. So fühlte es sich an, sich zu Tode zu fürchten.
    «Dich haben wir auch im Auge behalten, weißt du», sagte der Mann. «Ich glaube, du wirst staunen, wie viele von deinen getürkten Konten nicht mehr gedeckt sind.»
    Ryan konnte zwar die Worte hören, die der Mann sagte, konnte sie verarbeiten, wusste, was sie bedeuteten – aber gleichzeitig fühlten sie sich insgesamt nicht wie wirkliche Sätze an. Sie sanken in sein Bewusstsein wie eine bleibeschwerte Angelschnur, die in einen Teich geworfen wird, und er spürte, wie sich die Ringwellen in seinem Körper ausbreiteten.
     
    Was wünschte er sich in dem Moment von Jay? Was wünscht sich ein Sohn in einer solchen Situation von seinem Vater?
    Zunächst einmal gibt es den heroischen Action-Tagtraum. Den Vater, der dir

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