Identität (German Edition)
der Draht sich um seine Hand schlang, direkt unterhalb des Daumengelenks. Er zitterte so heftig, dass der Draht ebenfalls in Schwingung geriet, als der Mann ihn straffte.
«Bitte nicht», flüsterte Ryan, aber er war nicht sicher, ob tatsächlich irgendein Laut aus seinem Mund gedrungen war.
«Und jetzt, Ryan», sagte der Mann, «möchte ich, dass du deinen Vater aufforderst, Vernunft anzunehmen.»
Jay hatte das alles mit einem gequälten, glasigen Blick mitverfolgt, und seine Augen weiteten sich, als er sah, wie der Mann den dünnen Draht um Ryans Handgelenk schlang.
«Ich bin Jay!», rief er heiser, und es klang wie der Ruf einer Krähe auf einem Ast. «Ich bin Jay, ich bin Jay, ich bin der Mann, den Sie suchen, ich heiße Jay Kozelek, ich bin der, den Sie haben wollen …»
Doch der andere Mann stieß einen kehligen, angewiderten Laut aus.
«Du musst mich für einen Idioten halten», krächzte der Mann. «Ich kenne Jay Kozelek. Ich habe mit ihm zusammengewohnt. Ich weiß, wie er aussieht. Wir haben zusammen herumgesessen und gequatscht und uns Filme angeguckt und den ganzen Scheiß, und ich dachte, er wär mein Freund. Das ist das Schlimmste an der ganzen Sache. Wir standen uns tatsächlich nah, ich weiß also genau, wie sein Gesicht aussieht. Geht das in deinen Schädel? Ich weiß, wie er aussieht. Glaubst du ehrlich, du könntest mich verarschen, nach all der Zeit? Glaubst du, ich bin geisteskrank? Glaubst du, ich mach hier Spaß …?»
Nichts davon ergab für Ryan irgendeinen Sinn, aber er konnte sowieso längst nicht mehr klar denken.
Der Mann hatte schon angefangen, den Schneidedraht zu spannen, und Ryan stieß einen Schrei aus.
Es ging eigentlich sehr schnell.
Erstaunlich schnell.
Der Draht war scharf, und er sank tief in das Fleisch, bis er das Radiokarpalgelenk erreichte. Er blieb direkt oberhalb von Speiche und Elle hängen, rutschte dann am Knochen entlang, bis er den weicheren Knorpel fand, und der Mann ballte die Fäuste fester um die Griffe und zog mit aller Kraft hin und her, mit einer sägenden Bewegung, und die Hand ging plötzlich ab. Sauber abgetrennt.
Öach , sagte der Mann.
Da war diese Erinnerung,
ein Geist, der aus dem Nichts nach oben griff, nach seinem Handgelenk schnappte, und
Nicht direkt bei Bewusstsein.
Guckte nicht hin, nicht auf seine Hand, aber da war eine harte Stimme – verdammte elende Scheiße, was tust du da? –, und Ryans Augen gingen auf, und er konnte den Mann sehen, der da stand und blinzelnd auf den Fußboden starrte. Den Draht noch immer, jetzt locker, in der Hand, aber er war blass geworden, und sein Gesicht hatte einen feuchten Glanz. Einen verkniffenen Ausdruck, als hätte er etwas getrunken, das er besser ausgespuckt hätte.
Jetzt war da auch noch ein anderer Mann – einer von denen, die er im Kopf als «Spießgesellen» bezeichnet hatte –, und der sagte: O mein Gott Dylan bist du übergeschnappt du hattest doch gesagt du würdest das nicht wirklich machen , und Ryan am ganzen Leib bibbernd und mit schwummrigem Kopf, und die zwei Gestalten verschwammen zu Silhouetten und verfestigten sich dann wieder vor einer Lichteruption, die vom Küchenfenster reflektiert wurde, und einer von ihnen hatte ein Geschirrtuch in der Hand und beugte sich zu Ryan hinunter
und Jays Stimme –
«Er verblutet noch, Leute, er kann nichts dafür, bitte, lasst ihn nicht verbluten –»
Und dann der Mann, Dylan, der Ryan mit großäugigem, entsetztem Ekel anstarrte. Der zerknitterte schwarze Gangsteranzug hing an ihm wie ein Kostüm, das ihm jemand im Schlaf angezogen hatte, und er stand da, benommen, unsicher, wie ein Schlafwandler, der gerade in einem Zimmer aufwacht, von dem er geglaubt hatte, er habe es nur geträumt.
«O Scheiße», flüsterte Dylan.
Und dann bückte er sich und kotzte.
22
DER JETBLUE-AIRWAYS-FLUG von Denver nach New York dauerte dreieinhalb Stunden – Zeit genug, um mehrmals zwischen Panik und Resignation hin und her zu schwanken. Lucy saß, die Hände im Schoß verkrampft, stocksteif auf ihrem Platz in einem wankenden, Übelkeit erregenden Ausnahmezustand.
Sie war bis dahin noch nie geflogen – konnte sich aber nicht dazu durchringen, George Orson diese peinliche Tatsache einzugestehen.
David Fremden einzugestehen. Dad.
Sie hatte versucht, die Tatsache in den Kopf zu kriegen, dass es einen Menschen namens George Orson überhaupt gar nicht gab.
Es war nicht lediglich so, dass alles, was sie über ihn wusste, erfunden
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