Identität (German Edition)
ein dissonantes Durcheinander von Tonleitern und Aufwärmübungen, Klarinette, Cello, Trompete, Fagott, die sich umeinander schlängelten und schraubten, und es kam ihm wie ein passender Soundtrack vor – die Art von Musik, die man in einem Film hört, wenn die betreffende Person unmittelbar davorsteht, einen Nervenzusammenbruch zu kriegen, und gequält die Hände an die Schläfen presst.
Er presste zwar nicht gequält die Hände an die Schläfen, wohl aber dachte er, noch einmal –
Mein ganzes Leben ist eine Lüge.
Es gab viele Dinge, die einem in dieser Situation zu schaffen machen konnten, viele Gründe, wütend zu werden und sich betrogen zu fühlen, aber was Ryan von alldem am eindringlichsten spürte, war der Tod seiner leiblichen Mutter. Mein Gott!, dachte er. Selbstmord. Sie hat sich selbst umgebracht! Er fühlte, wie die Tragik dieses Ereignisses über ihn hinwegrollte, obwohl es längst Vergangenheit war. Trotzdem empörte es ihn, dass es Stacey und Owen überhaupt nicht gekümmert hatte, ob er davon wusste oder nicht. Dass sie davon erfahren und mit der Zunge geschnalzt hatten, während er wahrscheinlich im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, ein dreijähriges Kind, und sich irgendeine blöde, pädagogisch wertvolle Sendung ansah. Vielleicht hatten sie den Kopf geschüttelt und sich insgeheim bewusstgemacht, was für einen Gefallen sie ihm getan hatten, ihn als ihr eigenes Kind aufzuziehen, wie viel Geld und Mühe sie darin investiert hatten, ihn zu der Sorte Junge zu machen, die ein Stipendium von der Northwestern University bekommen konnte, zu der Sorte Mensch, die es ganz nach oben schaffen konnte, und wie hart sie daran gearbeitet hatten, ihn zu formen. Aber nichts deutete darauf hin, dass sie je auch nur in Betracht gezogen hätten, ihm die Wahrheit über seine Abstammung zu verraten, nichts darauf, dass sie begriffen, wie wichtig das eigentlich war, darauf, dass ihnen bewusst war, welch großes Unrecht sie ihm angetan hatten.
Vielleicht war es melodramatisch, aber nichtsdestoweniger spürte er, wie es durch seinen Magen rann, dieses flattrige Gefühl von ausgeschüttetem Adrenalin. Zum Teil lag es auch am bevorstehenden Chemietest, den er wahrscheinlich nicht bestehen würde, und zum Teil daran, dass es einer dieser kalten, blechernen Oktobermorgen war, sehr windig, und ein Rudel von Blättern wie ein Haufen Lemminge in die Clark Street hineinstrudelte und von einem schnell vorbeifahrenden Auto erfasst wurde. Da musste er an ein Wort denken, das er in seinem Psychologiekurs gelesen hatte. «Fugue-Status». Vielleicht war es die Kombination von dissonanten Arpeggien aus dem Konservatorium und dem wirbelnden Laub auf der Straße. «Fugue». Ein dissoziativer psychischer Zustand, der durch plötzliches, unmotiviertes Weglaufen vom eigenen Zuhause oder gewohnten Arbeitsplatz gekennzeichnet ist und der von der Unfähigkeit, sich an die eigene Vergangenheit zu erinnern, Verwirrung bezüglich der eigenen Identität beziehungsweise der Annahme einer neuen Identität und meist von einem hohen Grad an Angst und Heimweh begleitet wird.
Was eigentlich sehr interessant klang, in gewisser Hinsicht sehr verlockend, obwohl er vermutete, dass ein Fugue-Status, für den man sich bewusst entschied, nicht als richtiger Fugue-Status galt.
In Psychologie würde er auch noch durchfallen.
Und dann gab es noch ein paar Probleme wegen einer kleinen Veruntreuung öffentlicher Gelder, seines Studiendarlehens nämlich, und es war ein Brief von der Univerwaltung gekommen: ÜBERFÄLLIG. ZAHLUNGSAUFFORDERUNG. Es würde sehr schwierig werden, seinen Eltern zu erklären, was er mit diesem Geld gemacht hatte, wie er hatte vergessen können, seine Studiengebühren zu bezahlen, und das geliehene Geld stattdessen für Klamotten und CDs und Abendessen im mexikanischen Lokal auf der Foster Avenue zu verpulvern. Wie war das passiert? Das wusste er selbst nicht.
Und so saß er jetzt, gegen Ende Januar, in seinem gemieteten Chevy Aveo und fuhr den düsteren Korridor der Interstate 80 entlang und überlegte sich, dass er einen Song darüber schreiben würde, wie er die Interstate entlangfährt, ganz allein, und keiner weiß meinen Namen, und ich bin so weit weg von dir oder irgendwas in der Art. Nur nicht so kitschig.
Liebe Mom und Dad, mir ist klar, dass ich mit den Entscheidungen, die ich in letzter Zeit getroffen habe, nicht gerade viel Rücksicht auf Eure Gefühle genommen habe, und es tut mir leid, dass ich Euch Kummer
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