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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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mechanisch seinen Namen in die Suchmaschine ein und überflog noch einmal ein paar von den alten Artikeln und Meldungen. Zum Beispiel:
     
    KEINE FORTSCHRITTE IM FALL DES VERMISSTEN COLLEGE-STUDENTEN
     
    CHICAGO − Die Chicagoer Polizei macht bei der Suche nach einem College-Studenten der Northwestern University, der in den Morgenstunden des 20. Oktober spurlos verschwunden ist, keinerlei Fortschritte. Auf einen anonymen Hinweis hin haben Taucher das eisige Wasser des Lake Michigan in der Nähe des Campus abgesucht, sind aber mit leeren Händen zurückgekehrt. Polizei-Sergeant Rizzo erklärte, die Ermittlungen seien in eine Sackgasse geraten, und es gebe keinerlei neue Entwicklungen.
     
    Es bereitete ihm schon gewisse Schuldgefühle, war aber gleichzeitig auch enttäuschend. Ganz offensichtlich beherrschten die Cops ihren Job nicht besonders gut. Spurlos verschwunden! Herr Jesus! Es war ja nicht so, dass er verkleidet gewesen wäre. Dass ihm jemand einen Kartoffelsack über den Kopf gestülpt und ihn in einen Lieferwagen gezerrt oder sonst wie entführt hätte. Er war aus dem Campus spaziert und war mit der Hochbahn zum Busbahnhof gefahren, und es gab mit Sicherheit jede Menge Leute, die ihn an dem Tag gesehen hatten. Waren die Leute so unaufmerksam? War er so unauffällig?
    Und die Selbstmordhypothese machte ihm ebenfalls zu schaffen – wie schnell sie damit bei der Hand waren, Taucher in den See zu schicken! Das ging bestimmt auf die Rechnung seiner Mutter, dachte er. Sie wusste, dass seine leibliche Mutter sich das Leben genommen hatte, und da lag es ja nahe, dass sie als Erstes auf diesen Gedanken kam.
    Der Gedanke hatte ihr wahrscheinlich schon seit einiger Zeit auf der Seele gelegen. Jedes Mal, wenn er mit ihr telefoniert hatte, hatte sie ihn gefragt, wie es ihm gehe, warum er so wortkarg sei, ob irgendwas nicht stimme, und jetzt begriff er, woran sie die ganze Zeit gedacht hatte.
     
    Es gab einen Ping, als jemand sich beim Instant Messenger einloggte, und er warf einen Blick auf den Bildschirm. Allmählich wurde es Zeit, dass Jay sich meldete – wenn er unterwegs war, führten sie immer einen kurzen Chat über IM, nur um in Kontakt zu bleiben, aber als er das IM-Fenster öffnete, sah er nur sinnlose Zeichen.
    Beziehungsweise nein, jemand schrieb, wie er vermutete, mit kyrillischen Buchstaben. Russisch?
     
    490490 : Раскрытие способностей к телекинезу с помощью гипноза … данном разделе Вашему вниманию предлагается фрагменты видеозаписей демонстраций парапсихологических явлений.
     
    Er betrachtete die Schriftzeichen. Stimmte irgendetwas mit Jays Computer nicht? War das ein obskurer Scherz, den Jay sich mit ihm leistete? Dann tippte er:
     
    BLURTON : Vielleicht könntest du es ja mit Englisch versuchen, hm, Kumpel?
     
    Der Cursor saß da und blinkte. Atmete. Dann:
     
    490490 : Господин Ж??? J ???
     
    Ist ja irre, dachte er.
     
    BLURTON : Jay??
     
    Keine Antwort. 490490 war verstummt, aber es war ein irgendwie lauerndes Schweigen, eine besondere Stille im Motelzimmer mit den zugezogenen Vorhängen, dem Schiefergesicht des Fernsehers, das kühl aufs Bett starrte, und dem fernen Geräusch von Sattelschleppern, die auf dem Highway hinter dem Motel vorüberdonnerten. Er sagte sich, dass er das IM-Fenster vielleicht besser schließen sollte.
    Dann aber fing 490490 wieder an zu tippen.
     
    490490 : Mr.   J. Wie schön Mr.   J. zu finden. Ich see wo sie sind.

8
    ALS LUCY aufwachte, lag sie allein im Bett. Da war die zerdrückte Fläche, wo George Orson geschlafen hatte, das eingedellte Kissen, die beiseitegeschobenen Decken, und sie setzte sich in der bedrohlich hohen Höhlung des Zimmers auf. Das Sonnenlicht säumte die Kanten der Vorhänge, und sie konnte die wachsame Tür des Wandschranks sehen, die finstere, strenge Gestalt der Frisierkommode und die halbdunklen Spiegelungen im ovalen Schminkspiegel – eine Bewegung, die, wie sie begriff, sie selbst war, allein im Bett.
    «George?», sagte sie.
     
    Fast eine Woche war vergangen, und sie waren noch immer hier im alten Haus in Nebraska. Allmählich wurde sie ein bisschen nervös, obwohl George Orson versucht hatte, sie zu beruhigen – «Kein Grund zur Sorge», sagte er. «Nur ein paar Dinge, die geklärt werden müssen …»
    Mehr sagte er dazu allerdings nicht. Seit sie dort angekommen

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