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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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bereitet habe. Ich weiß, ich hätte mich schon früher bei Euch melden müssen, und sicher ist mittlerweile die Polizei eingeschaltet, und ich gelte wahrscheinlich als «vermisst», aber Ihr sollt wissen, dass es nicht meine Absicht war, Euch Ärger und Sorgen zu bereiten. Dann habe ich’s aber doch getan. Gerade stehe ich an der Rezeption eines Motels in …, und an der Wand des Motelmanager-Kabuffs hängt so ein xerokopierter Spruch, eine dieser Weisheiten, die sich die Leute immer über ihrem Computer oder sonst wo an die Wand pappen, keine Ahnung, warum. Auf dem Blatt steht:
     
Die Umstände meines Lebens –
Die Ereignisse in meinem Leben –
Die Menschen in meinem Leben –
Sie mach en mich nicht zu dem, was ich bin.
Sie offenbar en das, was ich bin.
     
Und da wird mir bewusst, wie sehr Dir, Mom, dieser Ausspruch gefallen würde, dass er vielleicht genau das wäre, was Du zu mir sagen würdest, wenn Du alle meine Ausreden hören könntest. Ich kann mir vorstellen, dass ich Euch mit einem Schlag offenbart habe, wer ich bin, und dass es eine unerfreuliche Überraschung für Euch war. Ich bin nicht der Sohn, den Ihr Euch gewünscht habt, als Ihr mich aufgenommen und versucht habt, mich zu einem anständigen Menschen zu machen. Denn ich vermute, ich bin etwas anderes. Ich weiß noch nicht, was, aber –
     
    aber da war er nun und checkte im Motel ein, weil er dafür sorgen musste, dass Matthew P. Blurtons MasterCard-Konto mit einer Übernachtung belastet wurde. Es war ein Holiday Inn mit Gratis-WLAN, und er musste Matthew P. Blurtons E-Mail-Konto checken und Instant Messenger aufrufen, um festzustellen, ob Jay versuchte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen.
    Er hatte auch ein auf den Namen Matthew P. Blurton angemeldetes Handy, aber Jay traute Handys nicht, und so durfte er Jay nur in dringenden Notfällen anrufen.
    Er machte sich ständig Sorgen, seine Mutter könnte ihn aufspüren. Sie hatte jahrelang behauptet, sie wisse nicht einmal, wo Jay sich aufhalte, aber wenn ihr Sohn verschwand und wirklich verschwunden blieb, würde sie nicht irgendwann zusammenbrechen und dann versuchen, Jay ausfindig zu machen? Würde sie nicht das Gefühl haben, dass Jay – sein wirklicher Vater – ein Recht hatte, Bescheid zu wissen? Während der ganzen Monate hatte er meistens bei Jay gewohnt, in der Hütte in den Wäldern von Michigan, hatte auf dem Sofa geschlafen und gelegentliche «Aventiuren», wie Jay sie nannte, unternommen – ohne eine Ahnung zu haben, was Jay mit den Kreditkarten und den Sozialversicherungsnummern und den verschiedenen Listen aus dem Internet eigentlich anfing –, und irgendwie fühlte er sich wohl dabei, auch wenn er manchmal an Stacey und Owen und das Haus in Council Bluffs zurückdenken musste.
    Wie sie am Küchentisch saßen und mit ihren Gabeln in einen von Staceys Aufläufen stachen und einen Bissen an den Mund führten. Sie waren schon immer eine dieser am Esstisch schweigenden Familien gewesen, was Stacey nicht daran gehindert hatte, während seiner ganzen Highschool-Zeit zu erklären, es sei wichtig, dass sie zusammen essen – als ob sie sich dadurch irgendwie näherkämen, dass sie nebeneinander saßen und sich Essen in den Mund schaufelten, bis Ryan endlich von seinem leeren Teller abrücken und sagen konnte: «Dad, darf ich aufstehen?»
    Ist sie jetzt traurig?, fragte sich Ryan. War sie in Sorge und verängstigt und in Tränen aufgelöst? Oder war sie wütend?
    Einmal, auf der Highschool, hatte er richtig Scheiße gebaut, hatte sich eine, wie Stacey meinte, «unpassende» Freundin zugelegt und die Schule geschwänzt und gelogen und sich herumgetrieben, und sie hatte ebenso flink wie eiskalt reagiert und ihn zu einem Wildnisprogramm für widerspenstige Jugendliche geschickt: Mitten in der Nacht hatte sie ihn, lediglich mit einem Matchsack ausgerüstet, den «Beratern» übergeben, die vor der Tür standen und darauf warteten, ihn in den Lieferwagen zu verfrachten und ihn zu einer zweiwöchigen disziplinarischen Selbsthilfe-Gehirnwäsche-Sitzung abzutransportieren.
    Auch daran dachte er. Er konnte sich die Entschlossenheit, die Wut vorstellen, mit der seine Mutter ihre Helferlein aussandte, damit sie ihn zur Strecke brachten und in das Leben zurückschleiften, aus dem er geflüchtet war.
     
    Ryan setzte sich an den Schreibtisch in seinem Zimmer im Holiday Inn und klappte seinen Laptop auf. Es brachte wahrscheinlich wenig, sich an solche Dinge zu klammern, dennoch gab er

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