Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
würde dann damit nach Milwaukee fahren und es am Flughafen wieder abgeben, und dann würde er in Milwaukee mit einem Ausweis auf den Namen Kasimir Czernewski, zweiundzwanzig, ins Flugzeug steigen und nach Detroit fliegen, und später würde er, per Online-Banking, von Czernewskis Konto in Milwaukee einen Betrag von vierhundert Dollar auf das Konto von Frederick Murrah, fünfzig, in West Deer Township, Pennsylvania, überweisen. War es einfach ein sehr kompliziertes Hütchenspiel, bei dem eine Person in die nächste schlüpfte, und immer so weiter? Irgendeinen finanziellen Gewinn musste das Ganze ja abwerfen, das nahm er jedenfalls an, aber falls es so war, hatte er noch nichts davon gesehen. Er und Jay wohnten in einer Hütte im Wald, einer kleinen Jagdhütte, mit einer ultraschicken Computerausrüstung darin, aber, soweit er feststellen konnte, kaum etwas anderem von Wert.
    Jay sah so ernst und streng aus. Er hatte glattes, schulterlanges Haar, Surferhaar, dachte Ryan, schwarz mit ein paar vorzeitigen grauen Fäden darin, und die schlabbrigen Militärklamotten eines minderjährigen Ausreißers. Es fiel schwer, ihn sich anders als cool und relaxed vorzustellen, aber plötzlich war er von einer erschreckenden Heftigkeit.
    «Schwöre bei Gott, Ryan», sagte Jay. «Das ist mein Ernst», sagte er, und Ryan nickte.
    «Jay, vertrau mir», sagte Ryan. «Du vertraust mir doch, oder?»
    Und Jay sagte: «Klar vertrau ich dir. Du bist doch mein Sohn, oder?» Und dann bedachte er Ryan mit diesem Grinsen, das Ryan, ob er wollte oder nicht, noch immer ziemlich umwerfend fand, ja atemberaubend, fast als sei er verknallt oder so – Du bist mein Sohn , und dazu dieser bewusste Blickkontakt, zugleich einschüchternd und schmeichelhaft, und Ryan meinte nur, ganz durcheinander:
    «Ja, bin ich wohl. Ich bin dein Sohn.»
     
    Das war eins der Dinge, an denen sie noch immer am Basteln waren – wie sollten sie über das ganze Thema reden? –, und es war noch alles ziemlich befangen. Sie fingen an, darüber zu sprechen, und dann wusste keiner von beiden, was er sagen sollte, es erforderte eine bestimmte Sprache, die entweder zu analytisch oder zu kitschig und peinlich war.
    Schlicht gesagt war die Sache die: Jay Kozelek war Ryans leiblicher Vater, aber Ryan wusste es erst seit kurzem. Bis vor ein paar Monaten hatte Ryan gedacht, Jay sei sein Onkel. Der seit langem entfremdete jüngere Bruder seiner Mutter.
    Seine Existenz verdankte Ryan der üblichen Teenager-Dummheit; das war die Kurzversion. Zwei Sechzehnjährige hatten nach einem Kinobesuch auf der Rückbank eines Autos den Kopf verloren. Das war in Iowa gewesen, und die Eltern des Mädchens – die Eltern von Ryans Mutter – waren streng religiös und lehnten eine Abtreibung ab. Außerdem wünschte sich Jays ältere Schwester Stacey ein Kind, hatte aber irgendwelche Probleme mit den Eierstöcken.
    Jay war von Anfang an der Meinung gewesen, dass Ehrlichkeit angesagt sei, aber Stacey war da ganz anderer Ansicht gewesen. Sie war zehn Jahre älter als Jay und hielt ohnehin nicht allzu viel von ihm – seiner Moral, seinen Ansichten über das Leben, den Drogen und so weiter.
    «Alles zu seiner Zeit», hatte sie zu Jay gesagt, als Ryan noch ein Baby war.
    Und später sagte sie dann: «Was geht dich das überhaupt an, Jay? Warum muss sich immer alles um dich drehen? Kannst du nicht auch mal an andere denken?»
    «Er ist glücklich», sagte Stacey. «Ich bin seine Mutter, und Owen ist sein Vater, und er ist damit vollauf zufrieden.»
    Nicht lange danach hatten sie aufgehört, miteinander zu reden. Jay war ein paarmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und sie hatten sich gestritten, und das war’s dann. Während Ryan heranwuchs, wurde Jay kaum erwähnt – und wenn, dann nur als abschreckendes Beispiel. Dein Onkel Jay, der Knastbruder . Der Penner. Der nie mehr besessen hat, als in zwei Plastiktüten hineinpasste. Hat als Teenager mit Betäubungsmitteln angefangen, und das hat sein Leben zerstört. Lass dir das eine Warnung sein. Kein Mensch weiß, wo er mittlerweile ist.
    Und so hatte Ryan nie die Wahrheit erfahren: dass Stacey eigentlich seine Tante war, dass sein Onkel Jay, den er nur ein paarmal gesehen hatte, sein «biologischer Vater» war, dass seine leibliche Mutter während ihres zweiten College-Jahres Selbstmord begangen hatte – vor vielen Jahren, als Ryan ein dreijähriges Kind war, das bei seinen angeblichen Eltern, Stacey und Owen Schuyler, in Council Bluffs, Iowa, lebte,

Weitere Kostenlose Bücher