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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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und Jay mit dem Rucksack durch Südamerika zog –
    Von alldem hatte Ryan nichts gewusst, bis er selbst aufs College gekommen war. Eines Abends dann hatte Jay ihn angerufen und ihm alles erzählt.
     
    Er war in seinem zweiten College-Jahr, genau wie es seine wirkliche Mutter bei ihrem Tod gewesen war, und vielleicht lag es daran, dass es ihm einen solchen Schlag versetzte. Mein ganzes Leben ist eine Lüge , dachte er – was, wie er selbst wusste, melodramatisch und pubertär war, aber er wachte an diesem Morgen nach dem Telefongespräch mit Jay auf und fand sich in seinem Wohnheimzimmer wieder, einem Eckzimmer im dritten Stock von Willard Hall, sein Zimmergenosse, Walcott, schlief unter einer zusammengeknüllten Steppdecke im schmalen Einzelbett unter dem Fenster, und ein graues Licht drang langsam herein.
    Es musste gegen halb sieben, sieben sein. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, er rollte sich auf die Seite, das Gesicht zur Wand, kalter alter Putz mit vielen feinen Rissen im beigefarbenen Anstrich, und er schloss die Augen.
    Nach dem Gespräch mit Onkel Jay hatte er nicht viel geschlafen. Dem Gespräch mit seinem Vater .
    Anfangs war es wie ein Witz, und dann dachte er: Warum tut er das, warum erzählt er mir das alles? Gesagt hatte Ryan allerdings nur: «Oh. Aha. Wow.» Einsilbig, mit lächerlich höflicher, unverbindlicher Stimme. «Ach, wirklich?», hatte er gesagt.
    «Ich hatte einfach das Gefühl, du solltest es wissen», erklärte ihm Jay. «Ich meine, es ist wahrscheinlich besser, wenn du deinen Eltern nichts sagst, aber das kannst du selbst entscheiden. Ich dachte nur – es kam mir falsch vor. Du bist jetzt ein Mann, du bist erwachsen, und ich meine, dass du das Recht hast, die Wahrheit zu wissen.»
    «Ich danke dir», sagte Ryan.
    Aber nach ein paar Stunden immer wieder unterbrochenen Schlafs und nachdem er die Fakten ein paar hundert Mal im Kopf hin und her gewälzt hatte, wusste er nicht, was er mit dieser Information eigentlich anfangen sollte. Also setzte er sich im Bett auf und spielte mit den Säumen seiner Decken. Er konnte sich seine Eltern vorstellen – seine «Eltern», Stacey und Owen Schuyler, wie sie im Haus in Council Bluffs schliefen, und ebenso sein eigenes Zimmer, ein Stück weiter den Gang lang, die Bücher noch immer in ihren Regalen und seine Sommersachen noch immer im Wandschrank und seine Schildkröte Veronica auf ihrem Stein unter ihrer Wärmelampe – alles zusammen wie ein Museum seiner Kindheit. Vielleicht betrachteten sich seine Eltern gar nicht als Betrüger, vielleicht war ihnen die meiste Zeit über gar nicht bewusst gewesen, dass die Welt, die sie erschaffen hatten, in ihrem innersten Kern eine Fälschung war.
    Je länger er darüber nachdachte, desto mehr fühlte sich alles wie ein einziger Schwindel an. Es ging dabei nicht nur um seine eigene falsche Familie, es ging um «Familienstrukturen» überhaupt. Ja, jetzt verstand er, was seine Geschichtsdozentin meinte, wenn sie von «Konstrukten», «Geweben aus Zeichen», «Überlieferungslücken» sprach. Während er da in seinem Bett saß, war er sich der anderen – übereinander geschichteten und nebeneinander aufgereihten – Zimmer bewusst und der anderen Studenten, allesamt hier untergebracht und darauf wartend, nach ihren künftigen Jobs sortiert und verarbeitet und auf ihre jeweiligen Lebenswege geschickt zu werden. Er war sich der anderen Jungen bewusst, die schon in ebendiesem Zimmer geschlafen hatten, Dutzende und Dutzende von ihnen, und das Wohnheim verwandelte sich in einen Güterwaggon, der immer und immer wieder gefüllt und neu gefüllt wurde, Jahr für Jahr, und für einen Moment hätte er aus seinem Körper, aus der Zeit aussteigen und den undifferenzierten Strom von Artgenossen betrachten können, die kamen und gingen und durch neue ersetzt wurden.
    Er stand auf, nahm sein Handtuch vom Bettpfosten und sagte sich, dass er jetzt ebenso gut zum Waschraum gehen und duschen könnte. Ihm war klar, dass er sich zusammenreißen und für seine Chemieprüfung was tun musste, er stand bei vier, bestenfalls drei minus, O Gott , dachte er –
    Und vielleicht war genau das der Moment, an dem er aus seinem Leben ausbrach. Sein «Leben»: Wie abstrakt und flüchtig es sich auf einmal anfühlte.
    Eigentlich war er nur auf einen Kaffee aus dem Haus gegangen. Es war mittlerweile halb acht, aber der Campus schlief noch weitgehend. Bis auf die Musikstudenten, die er vom Bürgersteig aus in ihren Übungskabuffs hörte,

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