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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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waren, machte er sich rar. Blieb Stunden und Stunden im Erdgeschosszimmer eingeschlossen, das er «das Herrenzimmer» nannte. Sie hatte sich tatsächlich vor die abgeschlossene Tür gekniet und das Auge an das Schlüsselloch unter dem Knauf aus geschliffenem Glas gehalten, sodass sie ihn wie in einer Camera obscura sah, am großen Holzschreibtisch sitzend, über seinen Laptop gebeugt, das Gesicht hinter dem Bildschirm versteckt.
    Und natürlich war ihr der Gedanke gekommen, dass mit ihrem gemeinsamen Plan etwas schiefgegangen war.
    Worin der «Plan» auch immer bestehen mochte.
    Denn so hundertprozentig klar war ihr das nicht, wie ihr jetzt bewusstwurde.
     
    Sie zog die Vorhänge auf, und als das Licht hereinkam, sah die Sache schon ein bisschen besser aus. Im Haus herrschte ein trockener, erdiger Kellergeruch, den man am Morgen, beim Aufwachen, besonders stark bemerkte, dazu hatte man einen irgendwie unterirdischen Geschmack im Mund, nach vermodertem Stoff, und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Sie waren zugemalt, und es war klar, dass das Haus sich lange selbst überlassen gewesen war. «Keine Sorge, ich hab einen Kammerjäger kommen lassen», hatte George Orson ihr versichert, «und eine Putzfrau war alle paar Monate hier und hat sauber gemacht. Das Haus war in dem Sinne nie richtig verlassen », sagte er, in leicht defensivem Ton, aber Lucy wollte lediglich wissen, wie lange es her war, dass jemand wirklich in dem Haus gewohnt hatte – wie lange es her war, dass seine Mutter gestorben war.
    Und er gab eine widerwillige Schätzung ab.
    «Ich weiß es nicht», sagte er. «Wahrscheinlich so um die – acht Jahre?» Sie wusste nicht, warum er so tat, als stelle selbst eine so einfache Frage einen Einbruch in seine Privatsphäre dar.
    Aber in letzter Zeit waren viele ihrer Gespräche so abgelaufen, und sie blieb eine Weile, in Höschen und schlabbrigem T-Shirt, am Fenster stehen und schaute hinunter auf den Kiesweg, der von der Garage aus an Haus, Leuchtturm und Motelhof vorbei zur zweispurigen Teerstraße führte, die schließlich wie ein schwarzes Band wieder in die Interstate einmündete.
    «George?», sagte sie, jetzt lauter.
    Sie tappte auf bloßen Füßen den Gang entlang, und dann schaute sie unten in der Küche nach, und da war er auch nicht, allerdings sah sie, dass sein Müslinapf und sein Löffel sauber gespült und ordentlich im Abtropfkorb lagen.
     
    Und so verließ sie die Küche wieder und ging durch das Esszimmer zum «Herrenzimmer» –
    «Herrenzimmer». In Lucys Ohren klang das irgendwie britisch, prätentiös, wie aus einem altmodischen Krimi.
    Das Herrenzimmer. Das Billardzimmer. Der Wintergarten. Der Tanzsaal.
    Aber da war er auch nicht.
    Die Tür stand offen, an den Fenstern waren Vorhänge, auf dem Boden ein Teppich, und an der Decke hing ein Kronleuchter aus Messing mit baumelnden Tropfen aus geschliffenem Glas.
    «Das war das, was meine Mutter sich unter Eleganz vorstellte», hatte George Orson ihr erklärt, als er ihr das Zimmer zum ersten Mal zeigte, und sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und es auf sich wirken lassen. Was sich seine Mutter «unter Eleganz vorstellte», vermutete sie, war keine echte Eleganz – obwohl Lucy ehrlich beeindruckt war. Schöner Orientteppich, Goldtapeten, massive Holzmöbel, Regale voller Bücher; und nicht etwa billige Paperbacks, sondern richtige, fest gebundene Bände mit Fadenheftung und dicken Seiten und einem schweren, holzigen Geruch.
    Gab es irgendetwas, fragte sie sich, einen durch guten Geschmack oder gute Erziehung erkennbaren Grund, weswegen es in Ordnung war, ein Zimmer als «Herrenzimmer» zu bezeichnen, aber nicht in Ordnung, einen Kronleuchter an der Decke zu haben?
    Es gebe noch einiges, was sie über feine Lebensart lernen müsse, sagte George Orson, der durch sein Yale-Studium für derlei Dinge sensibilisiert worden war.
    Was sagte es also über sie aus, dass ihre Erfahrungen mit Kronleuchtern, Herrenzimmern und so weiter so begrenzt waren? Sie selbst entstammte einer langen Reihe von armen Schluckern, irischen, polnischen und italienischen Landarbeitern – Generationen über Generationen von Niemanden.
    Man hätte ihre Familie zweidimensional darstellen können, wie die Figuren eines Comicstrips. Da war ihr Vater, ein Klempner, ein freundlicher, bierbäuchiger, verdreckter kleiner Mann mit haarigen Händen und einem kahlen Kopf. Ihre Mutter: zerzaust und streng, trank am Küchentisch Kaffee, bevor sie zur Arbeit ins

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