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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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wahrscheinlich gesagt.
     
    Also hob er den Kopf, um zu sehen, was gerade so passierte.
    Vor dem Empfangstisch saß eine Afroamerikanerin mittleren Alters in marineblauem Mantel mit kleinem violettem Hut. Ryan beobachtete verstohlen, wie sie ein Portemonnaie aus ihrer Handtasche holte.
    «Meine Großmutter ist achtundneunzig Jahre alt!», sagte die Dame gerade. Sie betrachtete ihr Portemonnaie so, als spielte sie Binokel, und prüfte, stirnrunzelnd, ihr Blatt, dann zog sie eine verbogene, uralt aussehende Kreditkarte heraus. «Achtundneunzig Jahre alt!»
    «Mm-hmm», sagte der junge Mann hinter dem Tresen, der ebenfalls Afroamerikaner war. Seine Augen waren auf den Computerbildschirm gerichtet, und er tippte eine Salve von Buchstaben in die Tastatur.
    «Achtundneunzig Jahre alt», sagte er. «Das ist ein langes Leben!»
    «Das können Sie laut sagen», sagte die Frau, und Ryan spürte förmlich, dass sie kurz davor waren, eine angenehme Konversation anzufangen. Er warf einen Blick auf seine Uhr.
    «Ich frag mich, wie lang meine Lebenslinie wohl ist», sinnierte der junge Mann am Computer, und Ryan sah, wie die Frau nickte.
    «Das weiß der Herr allein», sagte die Frau.
    Jetzt legte sie Kreditkarte und Führerschein auf den Tresen.
    «Ach ja», sagte die Frau, «in dem Alter ist es nicht leicht. Sie redet überhaupt nicht mehr viel, aber singen ja, das tut sie oft. Und sie betet. Sie betet, wissen Sie.»
    «Mm-hmm», sagte der junge Mann und tippte wieder. «Leidet sie an Amnesie?», fragte er.
    «O nein», sagte die Frau. «Ihr Gedächtnis ist so weit in Ordnung. Zumindest erkennt sie noch jeden, den sie erkennen will!»
    Darüber lachten sie beide, und Ryan ertappte sich dabei, dass er lächelte. Und dann – wenigstens zum Teil, weil er wie ein Idiot über ein belauschtes Gespräch lächelte – fühlte er sich einsam.
    In Iowa, wo er aufgewachsen war, gab es praktisch keine Schwarzen, und seit er weiter im Osten wohnte, war ihm aufgefallen, dass Schwarze immer nett zueinander waren, dass unter ihnen eine Art Kameradschaft bestand. Vielleicht war das ein Klischee, aber trotzdem, als der Mann und die Frau schmunzelten, verspürte er ein ganz unerwartetes Gefühl der Sehnsucht. Er bekam eine Ahnung von Behagen, Wärme, Zusammengehörigkeit. Fühlte es sich wirklich so an? Er wusste es nicht.
    In letzter Zeit hatte er immer wieder daran gedacht, sich bei seinen Eltern zu melden, und er feilte im Geist bereits an einem Brief. « Liebe Mom & Dad », klar.
    « Liebe Mom & Dad, tut mir leid, dass ich so lange nichts von mir hab hören lassen. Ich dachte, Ihr solltet wissen, dass es mir gutgeht. Ich bin in Michigan –»
    Und dann, natürlich, würden sie es genau wissen wollen, oder sie würden es sich sowieso denken können. « In bin in Michigan bei Onkel Jay, und ich weiß, dass er mein leiblicher Vater ist, also können wir wohl zumindest in dem Punkt aufhören, uns etwas vorzumachen –»
    Was schon anfing, feindselig zu klingen. « Ich bin in Michigan bei Onkel Jay. Ich bleib eine Weile hier, bis ich mir über einiges klargeworden bin. Ich hab ein paar Songs geschrieben, verdien ein bisschen Geld. Onkel Jay hat da ein Geschäft laufen, bei dem ich ihm in letzter Zeit ein wenig zur Hand gehe –»
    Schlechte Idee, auch nur was von «Geschäft» zu schreiben. Klang sofort zwielichtig. Jay?, würden sie denken. Was war das wohl für ein Geschäft? Sofort würden sie an Drogen oder sonst was Illegales denken, und er hatte Jay schon versprochen, dass er niemandem was verraten würde.
    «Schwöre bei Gott, Ryan», hatte Jay gesagt, als sie einmal in der Hütte in Michigan auf der Couch saßen und Videospiele spielten. «Das ist mein Ernst. Du musst schwören, dass du von alldem hier nie auch nur ein Wörtchen verraten wirst.»
    «Du kannst mir vertrauen», sagte Ryan. «Wem sollte ich schon was verraten?»
    «Wem auch immer», sagte Jay. «Das hier ist eine äußerst ernste Angelegenheit. Es könnten gewisse Leute ins Spiel kommen, die überhaupt keinen Spaß verstehen, wenn du weißt, was ich meine.»
    «Jay», sagte Ryan, «ich verstehe. Wirklich.»
    «Das hoffe ich, Kumpel», sagte Jay, und Ryan hatte brav genickt, obwohl er von dem Projekt, an dem sie arbeiteten, wenn er ehrlich war, nicht viel kapierte.
    Er wusste, dass es etwas Illegales war, klar, irgendeine Art von Beschiss, aber der eigentliche Zweck der Übung blieb im Dunkeln. An einem Tag wäre er Matthew P. Blurton und mietete in Cleveland ein Auto und

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