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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Krankenhaus ging, eine Krankenschwester, aber nur mit Berufsschulausbildung, ohne staatliches Diplom. Ihre Schwester, einfältig und rund wie ihr Vater, die pflichtbewusst, ohne ein Wort der Klage Geschirr spülte oder einen Korb Wäsche faltete, während Lucy übellaunig-faul auf der Couch saß und Romane der angesagtesten jungen Autorinnen las und sich dabei bemühte, eine Aura vornehmer Gereiztheit auszustrahlen –
    Während sie sich im leeren Herrenzimmer umschaute, musste sie an ihre verlorene, traurig-komische Familie denken. An ihr altes Loser-Leben, das sie gegen dieses neue eingetauscht hatte.
     
    Im Herrenzimmer gab es einen alten eichenen Schreibtisch, sechs Schubladen pro Seite, allesamt abgeschlossen. Einen Aktenschrank, ebenfalls abgeschlossen. George Orsons Laptop, passwortgeschützt. Und einen Wandtresor, der hinter einem gerahmten Bild von George Orsons Großeltern versteckt war.
    «Opa und Oma Orson», hatte George Orson gesagt und auf das grimmige Pärchen gezeigt, beide bleichgesichtig und dunkel gekleidet, die Frau mit einem hellen und einem dunklen Auge – «was man als Heterochromie bezeichnet», sagte George Orson. «Sehr selten. Ein blaues Auge. Ein braunes Auge. Wahrscheinlich erblich, obwohl meine Großmutter immer gesagt hat, das kommt davon, dass ihr Bruder ihr in der Kindheit mal aufs Auge geschlagen hat.»
    «Hmm», hatte Lucy gesagt, und sie betrachtete, jetzt allein im Zimmer, noch einmal das Bild, den heterochromatischen Blick, mit dem die Frau den Fotografen fixierte. Einem eindeutig unglücklichen und fast flehentlichen Blick.
    Und dann hakte sie den Riegel auf, so wie George Orson es ihr gezeigt hatte, und die alte Fotografie schwang wie eine Schranktür nach vorn und offenbarte die Wandvertiefung mit dem Tresor.
    «Aha», hatte Lucy gesagt, als sie das zum ersten Mal gesehen hatte. Der Tresor hatte in Lucys Augen ziemlich alt gewirkt, mit einem Kombinationsrad, das so aussah wie die Sendereinstellscheibe eines antiquierten Radios. «Willst du ihn nicht aufmachen?», sagte sie, und George Orson hatte geschmunzelt – wenngleich ein bisschen unsicher.
    «Das Problem ist – ich kann’s nicht», sagte er.
    Ihre Blicke begegneten sich, und sie wusste nicht genau, was sie von seinem Ausdruck halten sollte.
    «Ich hab’s nicht geschafft, die Kombination rauszukriegen», sagte er. Dann zuckte er die Achseln. «Ich bin sowieso sicher, dass er leer ist.»
    «Du bist sicher, dass er leer ist», sagte sie. Sie sah ihn an, und er hielt ihrem Blick stand. Es war einer dieser Momente, in denen seine Augen sagten: Vertraust du mir nicht? Und ihre Augen sagten: Ich denk darüber nach .
    «Tja», sagte George Orson. «Ich habe meine sehr ernsten Zweifel, dass er voll von Dublonen und Edelsteinen ist.»
    Er schenkte ihr dieses halbe Lächeln, bei dem er immer Grübchen bekam.
    «Bestimmt steht die Kombination irgendwo in den Akten», sagte er dann und berührte mit der Spitze seines Zeigefingers spielerisch ihr Bein, so als klopfte er auf Holz.
    «Irgendwo», sagte er. «Wir brauchen nur noch den Schlüssel des Aktenschranks zu finden.»
     
    Doch jetzt, wie sie im Herrenzimmer stand, konnte sie nicht umhin, sich den Tresor noch einmal anzuschauen. Sie musste einfach die Hand ausstrecken und am elfenbeinverzierten Messinggriff rütteln, um sich zu vergewissern, dass er, ja, noch immer abgeschlossen, dicht und unzugänglich war.
    Nicht, dass sie George Orson je bestohlen hätte. Nicht, dass es ihr nur ums Geld gegangen wäre –
    Aber sie musste schon zugeben, dass Geld ein nicht unwesentlicher Aspekt war. Denn tatsächlich war sie sehr darauf aus gewesen, aus Pompey, Ohio, wegzukommen, um mit George Orson reich zu sein, und wahrscheinlich stimmte es auch, dass diese Aussicht erheblich zur Faszination des ganzen Abenteuers beigetragen hatte.
     
    Im September ihres letzten Highschool-Jahrs, zwei Monate nach dem Tod ihrer Eltern, war Lucy lediglich eine deprimierte Schülerin in George Orsons Fortgeschrittenenkurs über amerikanische Geschichte gewesen.
    Er war ein neuer Lehrer, ein neues Gesicht in ihrer Stadt, und es war schon von der allerersten Schulstunde an offensichtlich, dass er Ausstrahlung besaß, mit seiner schwarzen Kleidung und seiner Art, Leuten direkt in die Augen zu sehen, mit diesen grünen Augen. Er lächelte die Leute an, als trieben sie alle zusammen etwas Verbotenes.
    «Die amerikanische Geschichte – die Geschichte, die ihr bis dato gelernt habt – steckt voller Lügen

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