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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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waren sie seit ihrer Ankunft nicht mehr gefahren. «Zu auffällig», hatte George Orson gesagt. «Hat keinen Sinn, zu viel Aufmerksamkeit zu erregen» – und dann wachte sie am nächsten Morgen auf, und er war schon aufgestanden, und er war nicht im Haus, und sie fand ihn zuletzt in der Garage.
    Drinnen standen zwei Wagen. Auf der linken Seite der Maserati, vollständig zugedeckt mit einer olivgrünen Plane. Rechts ein alter rot-weißer Ford Bronco Pick-up, möglicherweise aus den Siebzigern oder den Achtzigern. Die Motorhaube des Pick-ups war hochgeklappt, und George Orson steckte mit dem ganzen Oberkörper darunter.
    Er trug einen alten Blaumann, und sie hätte fast laut losgelacht. Sie konnte sich nicht vorstellen, wo er eine solche Kluft aufgetrieben haben mochte.
    «George», sagte sie. «Ich hab dich überall gesucht. Was treibst du da?»
    «Ich repariere einen Pick-up», sagte er.
    «Oh», sagte sie.
    Und obwohl er im Prinzip noch er selbst war, sah er in dem schmutzigen Overall, mit den ungekämmten, zu Berge stehenden Haaren, den ölgeschwärzten Fingern – tja – kostümiert aus, und sie verspürte einen leichten Stich.
    «Ich wusste gar nicht, dass du Autos reparieren kannst», sagte Lucy, und George Orson bedachte sie mit einem langen Blick. Einem traurigen Blick, dachte sie, als ob er sich an einen Fehler erinnerte, den er einst einmal gemacht hatte.
    «Es gibt wahrscheinlich eine ganze Menge Dinge, die du von mir nicht weißt», sagte er.
     
    Was ihr jetzt, als sie wankend vor der offenen Tür der Garage stand, doch zu denken gab.
    Der Pick-up war verschwunden, und als sie auf die nackte Zementfläche starrte, auf der ein Ölfleck im Staub zeigte, wo der alte Bronco gestanden hatte, durchfuhr sie ein unbehaglicher Schauder.
    Er war weggefahren – hatte sie alleingelassen –, hatte sie im Stich gelassen –
    Der Maserati war noch da, noch immer unter seiner Plane. Völlig verlassen war sie nicht.
    Obwohl sie wusste, dass sie den Schlüssel des Maserati nicht hatte.
    Aber selbst wenn sie den Schlüssel gehabt hätte – sie konnte ein Auto mit Gangschaltung gar nicht fahren.
    Während sie noch darüber nachgrübelte, schaute sie in die Regale: Öldosen und Flaschen mit curaçaoblauer Scheibenwischerflüssigkeit, Konservengläser voll Holz- und Metallschrauben und Nägeln und Dichtungsringen.
    Nebraska war noch schlimmer als Ohio – falls das überhaupt möglich war. Es war hier lautlos , dachte sie, obwohl der Wind manchmal die Fensterscheiben zum Summen brachte, der Wind, der in einem langgezogenen Aushauch durch das Unkraut und den Staub und den ausgetrockneten See jagte, und manchmal kam, unerwartet, der sehr erschreckende Knall eines Militärflugzeugs, das über dem Haus die Schallmauer durchbrach, und dann war da noch das Geraschel der Heuschrecken, die von einem Grashalm zum nächsten hüpften –
    Aber meistens war es still, eine atemlose Stille wie kurz vor dem Weltuntergang, und man spürte, wie sich der Himmel hermetisch über einem schloss, wie das Glas einer Schneekugel.
     
    Sie war noch immer in der Garage, als George Orson zurückkam.
    Gerade hatte sie die Plane vom Maserati abgestreift, saß jetzt am Lenkrad und wünschte, sie wüsste, wie man einen Wagen kurzschloss. Wie passend, dachte sie, wenn George Orson zurückkäme und feststellen müsste, dass sein geliebter Maserati verschwunden war. Das würde ihm nur recht geschehen, und sie hätte zu gern sein Gesicht gesehen, wenn sie, erst nach Einbruch der Dunkelheit, die Zufahrt herauf zurückkommen würde –
    Noch immer schwelgte sie in diesen Phantasien, als George Orson in dem alten Bronco neben sie in die Garage fuhr. Als er ausstieg, machte er ein verdutztes Gesicht – warum war sein Maserati nicht mehr abgedeckt? –, aber dann sah er sie da sitzen, und sein Ausdruck nahm eine erfreulich alarmierte Note an.
    «Lucy?», sagte er. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt, beides sehr unscheinbar – seine Vorstellung einer Eingeborenentracht –, und sie musste zugeben, dass er nicht gerade wie ein reicher Mann aussah. Nicht einmal wie ein Lehrer – mit dem unrasierten Gesicht, dem aus der Fasson wachsenden Haar und dem von Argwohn verhärteten Unterkiefer hätte er tatsächlich als bedrohlich und längst nicht mehr jung beschrieben werden können. Einen Moment lang kam ihr eine Erinnerung an den Vater ihrer Freundin Kayleigh, der geschieden war und in Youngstown wohnte und zu viel trank und der einmal, als sie zwölf

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