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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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hatte George Orsons Antwort gar nicht gefallen. Später hörte sie ihn, im Lernzimmer und in der Cafeteria, dieselbe Frage kritisch wiederholen. «Wie kann sich ein Highschool-Lehrer ein solches Auto leisten?», wollte Toddzilla wissen. «Von wegen befriedigend , Scheiße, Mann. Ich glaub, der ist so ein reicher Perverser oder so, der einfach drauf steht, Teenager um sich zu haben.»
    Und das war wahrscheinlich das erste Mal, dass sie dachte: Hmmm . Die Vorstellung eines reichen George Orson begann sie zu beschäftigen. Seine weichen, aber maskulinen, geäderten Hände.
     
    Sie hatten Pompey im Maserati verlassen, und vielleicht war das der Grund gewesen, warum sie sich so zuversichtlich fühlte. Sie sah gut in dem Auto aus, fand sie, die Leute schauten sie an, wenn sie so die Interstate entlangdüsten, ein Typ in einem SUV drehte sich nach ihr um, als sie an ihm vorbeizogen, und zwinkerte ihr übertrieben zu, wie ein Stummfilmschauspieler oder ein Pantomime. Zwinker . Und sie wiederum tat so, als ob sie nichts mitbekam, dabei hatte sie sich sogar einen knallroten Lippenstift gekauft, halb aus Jux, aber als sie in den Außenspiegel schaute, war sie insgeheim zufrieden mit dem Ergebnis.
    Wer wärst du gern, wenn du nicht Lucy wärst?
     
    Eine Frage, über die sie häufig sprachen, wenn George Orson nicht gerade im «Herrenzimmer» eingeschlossen war.
    Wer wärst du gern?
    Eines Tages fand George Orson in der Garage einen alten Bogen mit den dazugehörigen Pfeilen, und sie gingen hinunter zum Strand, um ein bisschen zu schießen. Es war ihm nicht gelungen, eine richtige Zielscheibe zu finden, und so stellte er geduldig verschiedene Gegenstände auf, auf die Lucy schießen konnte. Zum Beispiel eine Pyramide aus Coladosen. Einen uralten Strandball, der nur noch halbherzig die Luft bei sich behielt. Einen großen Pappkarton, auf dem er mit schwarzem Filzstift konzentrische Kreise zeichnete.
    Wenn Lucy ihren Pfeil an die Sehne legte und den Bogen spannte und dabei zu zielen versuchte, stellte George Orson ihr Fragen.
    «Wärst du lieber ein unpopulärer Diktator oder ein populärer Präsident?»
    «Das ist einfach», sagte Lucy.
    «Würdest du lieber arm sein und an einem schönen Ort leben oder reich sein und an einem hässlichen Ort leben?»
    «Ich glaube nicht, dass Arme je an schönen Orten leben», sagte sie.
    «Würdest du lieber ertrinken, erfrieren oder verbrennen?»
    «George», sagte sie, «warum musst du immer so morbid sein?» Und er produzierte ein schmales Lächeln.
    «Würdest du aufs College gehen wollen, selbst wenn du so viel Geld hättest, dass du niemals richtig arbeiten müsstest?
    Womit ich meine», fuhr George Orson fort: «Gehst du aufs College, weil du ein gebildeter Mensch sein möchtest oder um dich für irgendeinen ‹besseren› Beruf zu qualifizieren?»
    «Hmm», sagte Lucy und versuchte, den Strandball, der im Wind vor sich hin torkelte, ins Visier zu nehmen. «Ich glaube, eigentlich möchte ich nur ein gebildeter Mensch sein. Wenn ich allerdings so viel Geld hätte, dass ich niemals arbeiten müsste, dann würde ich mir vielleicht ein anderes Hauptfach aussuchen. Irgendetwas Unpraktisches.»
    «Ich verstehe», sagte George Orson. Er stand hinter ihr; sie spürte seine Brust an ihrem Rücken, als er versuchte, ihr beim Zielen zu helfen. «Was denn zum Beispiel?», fragte er.
    «Zum Beispiel Geschichte», sagte Lucy und warf ihm einen lächelnden Seitenblick zu, als sie die Sehne losließ und der Pfeil trudelnd eine unsichere Bogenbahn beschrieb, um dann ungefähr dreißig Zentimeter vom Strandball entfernt in den Sand einzuschlagen.
    «Das war nah dran!», flüsterte George Orson – noch immer eng an sie geschmiegt, seine Hand an ihrer Taille, sein Mund an ihrem Ohr. Sie spürte das Schmetterlingsflattern seiner Lippen. «Sehr nah dran», sagte er.
     
    Daran dachte sie jetzt wieder, als sie aus dem Haus ging und in ihrem Schlaf-T-Shirt, die Haare auf einer Seite platt gedrückt und überhaupt momentan nicht im Mindesten attraktiv, dastand.
    «George?», rief sie – wieder einmal.
    Und sie schritt behutsam barfuß über die Kiesauffahrt in Richtung Garage. Es war ein scheunenartiger Holzbau, von hohem Unkraut gesäumt, und als sie näher kam, spritzte ein Gestöber von Heuschrecken aufgeschreckt auseinander. Ihre trockenen Flügel erzeugten ein dürres Geraschel, wie Klapperschlangen; sie strich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz nach hinten und hielt es in der Faust fest.
    Mit dem Maserati

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