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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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als er – nach seiner letzten Expedition, seinem Trip nach North Dakota – nach Cleveland zurückgekehrt war, und er hatte sich gesagt, dass heimzukehren, wieder in der Stadt seiner Kindheit zu leben, ihm ein Gefühl von Sicherheit und innerem Gleichgewicht schenken würde. Monate waren vergangen, und Hayden hatte sich nicht wieder gemeldet, und jetzt hatte er den Eindruck, dass er allmählich einen klareren Kopf bekam. Er würde in eine neue Phase seines Lebens eintreten.
    Cleveland hatte schon mal bessere Tage erlebt. Auf den ersten Blick sah es so aus, als liege die Stadt in den letzten Zügen: eine zusammenbrechende Infrastruktur, geschlossene und mit Brettern vernagelte Geschäfte, wohin man auch schaute, die Euclid Avenue – die große Mittelachse – aufgerissen und mit Wällen von aufgehäuften unregelmäßigen Asphaltplatten eingefasst, die Überholspuren ein einziger von orangefarbenen Pylonen gesäumter schlammiger Graben, die schönen alten Gebäude – May Company, Haybee’s – entkernt, ganze Straßenzüge, die nur noch aus unbebauten Grundstücken und verwunschen aussehenden Lagerhäusern bestanden.
    Solange er zurückdenken konnte, war diese Entwicklung schon zu erkennen gewesen. Jahrelang war die Stadt immer tiefer in Verfall und Hoffnungslosigkeit versunken, die Menschen sprachen immer nostalgisch von ihrer einstigen Herrlichkeit, ihrer glorreichen Vergangenheit, und er hatte solche Sprüche nie besonders ernst genommen.
    Aber jetzt sah die Stadt so aus, als sei sie ausgebombt und anschließend verlassen worden. Als er zum ersten Mal ins Zentrum gefahren war, hatte ihn ein apokalyptisches Gefühl befallen, das Gefühl, der letzte Mensch auf der Welt zu sein, obwohl ein paar Blocks weiter die Straße entlang durchaus andere Autos fuhren, obwohl er eine dunkle Gestalt im Eingang einer abgetakelten Kneipe verschwinden sah. Es war ein Gefühl, als wachte man auf, und alle Menschen, die man liebte, wären tot. Alle waren tot, und trotzdem drehte sich die Welt, streng und gedankenlos, weiter, unter einem Himmel, der von Möwen und Staren wimmelte. Ein Luftschiff schwebte lethargisch im Dunst über dem Baseballstadion, wie ein alter Luftballon, den jemand in einem schlammigen See liegengelassen hatte.
     
    Aber er musste versuchen, positiver zu denken! Wie seine Mom immer gesagt hatte, es musste nicht immer alles so morbid sein.
    Er hatte eine Wohnung am Euclid Heights Boulevard gemietet, nicht weit vom University Circle und, ja, auch nicht weit von der Straße, in der er und Hayden aufgewachsen waren.
    Aber daran wollte er jetzt nicht denken.
    Seine Wohnung lag in einem alten Buntsandsteinhaus namens «Hyde Arms». Zweiter Stock, zwei Zimmer, Parkettböden und renovierte Küche, Heizung und Wasser inklusive, Katzen willkommen.
    Er spielte mit dem Gedanken, sich eine Katze anzuschaffen – schließlich richtete er sich ja häuslich ein. Eine große, freundliche schwarz-weiße Smokingkatze, eine Mauserin, dachte er, eine Gefährtin – und die Vorstellung gefiel ihm, nicht zuletzt weil Hayden immer einen Horror vor Katzen gehabt hatte, eine abergläubische Angst vor ihren «Kräften».
    Im Telefonbuch hatte er einen seiner alten Freunde aus der Highschool ausfindig gemacht, John Russell, und es hatte ihn überrascht, ja regelrecht gerührt, wie sehr der sich darüber gefreut hatte, von ihm zu hören. Früher hatten sie beide in der Blaskapelle Klarinette gespielt und auch sonst immer viel Zeit miteinander verbracht. Als Miles jetzt anrief, sagte John Russell: «Warum gehen wir nicht mal irgendwo was trinken? Es gibt bestimmt viel zu erzählen!»
    Und genau das hatte sich Miles erhofft, als er nach Cleveland zurückgekehrt war. Mit einem alten Kumpel um die Häuser ziehen, Freundschaften auffrischen, vertraute Orte aufsuchen, entspannte, aber nicht unernste Gespräche führen. Ein paar Abende darauf saßen sie zusammen im Parnell’s Pub, einer netten Eckkneipe in der Nähe des Programmkinos, wo es sogar einen richtigen irischen Barkeeper gab. «Was kann ich den Herrschaften anbieten?», knödelte der mit seinem angenehmen Akzent. In zwei unaufdringlich in den Nischen über den Spirituosenflaschen montierten Fernsehern lief ein Baseballspiel, dem die Gäste in Abständen ihre Aufmerksamkeit schenkten, während die Jukebox die zugleich reservierte und relaxede, nicht zu ausgelassene und nicht zu gemäßigte Klientel mit irgendwie kultiviert klingender Rockmusik beschallte.
    Das könnte meine Bar werden,

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