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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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bekannt.
     
Warum ist Hayden in Inuvik? Ist Hayden überhaupt in Inuvik?
     
Nicht bekannt.
     
    Er saß da am Tresen und starrte auf seinen Spiralblock, in dem er diese und weitere Fragen in sauberen Blockbuchstaben aufgeschrieben hatte – seiner Schrift, die schon seit Kindertagen lediglich eine farblose Imitation von Haydens eleganterer Handschrift war.
    Er hielt sich noch immer das Handy ans Ohr.
    «Ja», sagte er. «Sie haben Informationen über den Mann auf dem Anschlag?» Ihm war bewusst, dass er leicht ungläubig klang, und er stockte. Die Frau sagte nichts.
    «Wir … wie auf dem Anschlag steht, sind wir, äh … bereit, eine Belohnung zu zahlen», sagte Miles.
    Belohnung . Mit seiner Kreditkarte würde sich wohl noch ein bisschen Geld flüssigmachen lassen.
     
    Er war noch immer benebelt. Vierundachtzig Stunden am Lenkrad, mit lediglich ein paar Schlafpausen am Straßenrand – auf dem Rücksitz zusammengerollt, die Fingerknöchel gegen den Mund gepresst, in eine bis zum Hals hochgezogene dünne Decke gewickelt. Einmal war er aufgewacht und hatte geglaubt, das Nordlicht am Himmel zu sehen, eine flüchtige, flatternde rauchartige Bahn von fluoreszierendem Grün, obwohl das auch die Farbe war, die vermutlich ein UFO abgeben würde, das über einem in der Luft schwebt.
    Als er endlich Inuvik erreicht hatte, stand er praktisch neben sich. Er hatte sich in einem Motel im Ortszentrum, dem Eskimo Inn, ein Zimmer genommen und geglaubt, in dem Augenblick, in dem er sich aufs Bett legte, das Bewusstsein zu verlieren.
    Es war spät, aber die Sonne schien nach wie vor. Die Mitternachtssonne, dachte er – ein trübes, mattes gelbliches Licht, als ob die Welt ein riesiger Kellerraum wäre, der von einer einzigen nackten 40-Watt-Birne erhellt wurde. Er zog die Vorhänge zu und setzte sich aufs Bett.
    Er hatte ein Klingeln in den Ohren, und seine Haut fühlte sich so an, als ob sie schwach leuchtete. Das Summen der Autoreifen auf dem Asphalt war ihm bis in die Knochen gedrungen, vorwärts, vorwärts, vorwärts, und er wünschte, er hätte daran gedacht, sich vor dem Einchecken ein paar Dosen Bier zu kaufen –
    Dann bräuchte er jetzt nicht dazusitzen und, den alten Atlas auf dem Schoß, dumm zu blinzeln. Als Detektiv eine Katastrophe, dachte er. Dominion of Canada stand über der Landkarte, die bauklotzförmigen Provinzen Alberta, Saskatchewan und Manitoba jeweils lila und orange und kaugummirosa, darüber erhoben sich die Nordwestterritorien in Minzgrün. Nunavut existierte auf dieser Karte noch gar nicht. In diese Karte hatte der halbwüchsige Hayden eine Reihe von Runen eingezeichnet, die sich über die ganze Länge der Tuktoyaktuk-Halbinsel hinaufzogen und durch die Beaufortsee weiter nach Sachs Harbour marschierten.
    Miles sah Hayden vor sich, wie er, in einen Eskimo-Parka mit pelzgefütterter Kapuze eingepackt, auf einem Hundeschlitten über eine brettebene gefrorene See fuhr, während hinter ihm die Eisfläche zu verzackten Puzzleteilchen auseinanderbrach. Die fahlen Seevögel kreisten wie Schlittschuhläufer über ihm und kreischten dabei: Tekeli-li! Tekeli-li!
     
    Es war ihm schon der Gedanke gekommen, dass dies eine weitere Sackgasse sein könnte.
    Ein weiteres Kulm, North Dakota –
    Ein weiteres Rolla, Missouri –
    Eine weitere Demütigung wie die im JPMorgan Chase Tower in Houston – als der Wachmann Miles von der Aussichtsplattform eskortiert und unten auf der Plaza abgesetzt hatte. Mister, ich hatte Sie gewarnt , hatte der Security-Mann gesagt –
    All die Male, wo er davon überzeugt gewesen war, kurz davor zu stehen, Hayden endlich zu erwischen.
    Während des letzten Teils seiner Fahrt auf dem Dempster Highway hatte er Koffeintabletten geschluckt, und jetzt wollte sein Herz nicht wieder langsamer werden. Er spürte seinen Puls in den Membranen seiner Augäpfel, in den Fußsohlen, in den Haarwurzeln. Und obwohl er so müde war, unglaublich müde, obwohl er sich auf der dünnen Motelmatratze ausstreckte und den Kopf ins Kissen drückte, wusste er nicht, ob es ihm gelingen würde einzuschlafen.
     
    Er versuchte zu meditieren. Er stellte sich vor, er wäre in seiner Wohnung in Cleveland, die weißen Gardinen bewegten sich in der Morgenbrise, und sein Gesicht drückte sich in das schöne, extraschwere Kissen, das er sich bei Bed Bath & Beyond gekauft hatte. Gleich würde er aufwachen, zur Arbeit ins Matalov Novelties fahren und sich nie wieder als Detektiv versuchen.
    Er war neunundzwanzig gewesen,

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