Identität (German Edition)
Notizblock:
Hat Hayden Clayton Combes Leben zerstört und ihn in den Selbstmord getrieben?
Nicht bekannt.
Zu dem Zeitpunkt fühlte er sich sehr verwundbar. Sehr verwundbar und entwurzelt und deprimiert, und er musste immer wieder über das nachdenken, was John Russell gesagt hatte. Die meisten Menschen vergeuden ihr Leben auf die eine oder andere Weise .
Ich muss einen Kurswechsel vornehmen , dachte Miles. Man konnte sein Leben durchaus klug nutzen, wenn man nur darüber nachdachte. Wenn man sich nur einen Plan machte und daran festhielt!
Doch trotz seiner guten Vorsätze ertappte er sich dabei, wie er seine Unterlagen noch einmal durchging.
Er ertappte sich dabei, wie er aus dem Fenster seiner Wohnung starrte, nach Nordosten hinaus, über die Kronen der Vorstadtbäume hinweg. Ein paar Blocks weiter war die Straße, in der seine Familie früher gewohnt hatte, und er spürte, wie ihr altes Haus undeutbare Signale aussandte, seine Abwesenheit meldete, da es gar nicht mehr da war.
Er spielte mit dem Gedanken, hinzugehen und sich das Grundstück anzusehen.
Was war noch übrig?, fragte er sich. War es bloß eine unbebaute Grasfläche? Stand da jetzt ein neues Haus, wo einst das alte gestanden hatte? War irgendetwas übrig, das er erkennen würde?
Das Haus war während seines zweiten Jahres an der Ohio University abgebrannt. Damals wurde Hayden seit über zwei Jahren vermisst, und Miles hatte es nie über sich gebracht zurückzukehren. Wozu auch? Sein Vater, seine Mutter, selbst sein Stiefvater, Mr. Spady, waren tot, nichts zog ihn dorthin außer einer morbiden Neugier, und der widerstand er letztlich. Er wollte die Überreste des Gebäudes nicht sehen, verbrannte Balken und das eingestürzte Dach, verkohlte Möbel; er wollte sich die von Feuer erhellten Fenster nicht vorstellen, die Nachbarn, die sich auf dem Rasen versammelten, als Feuerwehrwagen und Ambulanz vorfuhren.
Er wollte sich nicht vorstellen, dass Hayden möglicherweise dort im Schatten der Fliederhecke gestanden hatte, seine Brandstifterutensilien vielleicht noch immer bei sich, in einem Rucksack, den er über die Schulter geschwungen hatte.
Eigentlich gab es dafür keinerlei Beweise – nichts, abgesehen von einem deutlichen Schnappschuss in seiner Vorstellung, einem Bild, das so scharf war, dass er manchmal nicht umhinkonnte, das Haus zu der Summe von Haydens Verbrechen zu addieren. Das Haus, seine Mutter und Mr. Spady.
Und jetzt, dachte er, kam noch der arme Clayton Combe hinzu, der sich in einer Gefängniszelle aufgehängt hatte. Er dachte erneut an Haydens Clayton-Combe-Imitation: Kinn hoch, Augen zurückgerollt, Mund zu einer selbstherrlichen Grimasse verzerrt.
Von seinem zweiten Stockwerk aus konnte er das Dach des benachbarten Hauses sehen; unten eine mumifizierte Zeitung, noch immer aufgerollt und von einem Gummiband zusammengehalten, aber langsam zerfallend; ein Schwung Blätter kam, in Formation, wie Zugvögel oder Footballspieler, die Gasse heruntergestürmt; und dann tauchte ein Hubschrauber auf und schwebte, knapp über den Baumkronen, wuchtig vorüber, während seine dicken Rotoren die Luft zerhackten. Zweifellos auf dem Weg zum Krankenhaus, aber trotzdem sah Miles ihm mit strengem Blick nach. Jahrelang war Hayden davon überzeugt gewesen, von Hubschraubern beobachtet zu werden.
Ein paar Tage später hatte Miles einen Job gefunden. Beziehungsweise (so kam es ihm manchmal vor): Der Job hatte ihn gefunden.
Er war in der Innenstadt, hatte es geschafft, zu ein paar Vorstellungsgesprächen eingeladen zu werden. Es ging um Stellen als einfacher Programmierer und IT-Supporter, als «administrativer Mitarbeiter» bei der Stadtbücherei, nichts Aufsehenerregendes, aber nun. Schließlich war er gerade erst dabei, sesshaft zu werden, dachte er, sich ein Leben einzurichten, er musste hartnäckig und optimistisch sein – obwohl Optimismus sich nicht gerade leicht einstellte, wenn man die Prospect Avenue entlangging. So viele leerstehende Geschäfte mit ihren längst verblassten ZU-VERMIETEN-Schildern, so viele stumme Häuserblocks. Wahrscheinlich, dachte er wieder, war es ein Fehler gewesen zurückzukommen.
Dieser Gedanke ging ihm gerade durch den Kopf, als er um die Ecke bog und auf der Fourth Street, eingeklemmt zwischen den uralten Juweliergeschäften und Pfandleihhäusern, den Kuriositätenladen sah, Matalov Novelties.
Er war erstaunt darüber, dass es ihn noch immer gab. Es war das letzte Geschäft, von dem er
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