Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
für deine Offenheit dankbar gewesen.» Er zuckte nachsichtig die Achseln; er wollte keine Diskussion anfangen, er wollte nicht, dass sie sich aufregte. Sein Gesichtsausdruck flackerte, und sie fragte sich, ob sie ihn bei einer Wahrheit ertappt hatte – so wie manche Leute bei einer Lüge ertappt wurden.
    «Darf ich ehrlich sein?», sagte er. «Ich hatte nicht den Eindruck, dass du unbedingt noch weitere tragische Familiengeschichten hören müsstest. Wo dir dein eigener Verlust noch immer so schwer auf der Seele lag. Du musstest das alles hinter dir lassen, Lucy. Du hast mir von deinen Eltern erzählt – stimmt. Aber wirklich darüber reden wolltest du nicht.»
    «Hmm», sagte sie, weil er möglicherweise recht hatte; vielleicht verstand er sie ja doch. Konnte es sein, dass sie wirklich so verloren war, wie er zu meinen schien?
    «Außerdem», sagte er, «ist es schon lange her, dass mein Bruder gestorben ist. Ich denke nicht besonders oft daran. Meistens nur, wenn ich hier draußen bin.»
    «Ich verstehe», sagte sie, und sie setzten sich nebeneinander auf die zerbröckelnden Stufen vor der Kirche. «Ich verstehe», sagte sie noch einmal, und es war wieder dieses Zittern in ihrer Stimme. Sie dachte an das eine Mal zurück, wo ihr Vater mit ihr und Patricia auf dem Erie-See angeln gegangen war, und das Boot hatte ein Echolot gehabt, das ihnen helfen sollte, die großen Fische zu finden. Sie konnte sich vorstellen, wie George Orson sein Gedächtnis auslotete und den Schatten seines Bruders ortete, der durch das dunkle Wasser glitt.
    «Aber – vermisst du ihn denn nicht?», sagte sie.
    «Ich weiß es nicht», sagte George Orson endlich. «Natürlich vermisse ich ihn, auf eine bestimmte Weise. Als er gestorben ist, hat es mich natürlich entsetzlich mitgenommen; es war eine Tragödie. Aber –»
    «Aber was?», sagte Lucy.
    «Aber vierzehn Jahre sind eine lange Zeit», sagte George Orson. «Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, Lucy. Das ist dir vielleicht noch nicht klar, aber in einer solchen Zeitspanne durchläuft man viele verschiedene Stadien. Ich bin seit damals eine Menge verschiedener Personen gewesen.»
    «Eine Menge verschiedener Personen», sagte sie.
    «Dutzende.»
    «Ach, wirklich?», sagte sie. Und sie spürte, dass dieser zitternde Schatten noch einmal über sie hinwegzog, all die verschiedenen Personen, die sie selbst hatte werden wollen, all die Traurigkeit und die ängstliche Anspannung, die sie zu verdrängen versucht hatte, das alles schob sich wieder über sie, wie ein Eisberg. War das nur wieder eines ihrer Wortgeplänkel? Oder steckten sie mitten in einem ernsthaften Gespräch?
    «Also –», sagte sie. «Wer bist du jetzt?»
    «Ich bin mir nicht ganz sicher», sagte George Orson, und er sah sie lange an, und diese grünen Augen schossen wie neugierige Elritzen über ihr Gesicht. «Aber ich glaube, das ist schon in Ordnung.»
    Sie ließ zu, dass er mit der Handfläche über ihren Handrücken strich. Über ihre Knöchel, ihre Finger, ihre Nägel, ihre Fingerkuppen. Er berührte ihr Bein, so wie er es immer tat, wenn er sich besonders auf sie konzentrierte.
    Er liebt mich wirklich , dachte sie. Aus welchem Grund auch immer hatte sie das Gefühl, dass er wahrscheinlich der letzte verbleibende Mensch war, der sie wirklich kannte. Sie, wie sie wirklich war.
    «Hör zu», sagte George Orson. «Was, wenn ich dir sagen würde, dass du dein altes Ich hinter dir lassen könntest? Genau jetzt. Was, wenn ich dir sagen würde, dass wir George Orson und Lucy Lattimore hier begraben könnten? Direkt hier, in diesem toten Städtchen?»
    Er ist nicht gefährlich , dachte sie. Er würde ihr nichts antun. Und doch hatte sein Gesicht, hatten seine Augen eine so seltsame, entnervende Intensität. Es hätte sie nicht überrascht, wenn er ihr gleich eröffnet hätte, dass er etwas Schreckliches getan hatte. Jemanden ermordet vielleicht.
    Würde sie ihn trotzdem lieben, würde sie trotzdem bei ihm bleiben, wenn er irgendein grauenvolles Verbrechen begangen hätte?
    «George», sagte sie, und sie hörte selbst, wie heiser und unsicher ihre Stimme klang, dort unten in diesem Tal. «Versuchst du, mir Angst zu machen?»
    «Überhaupt nicht», sagte George Orson, und er nahm ihre Hände in seine und neigte sein Gesicht zu ihr, sodass sie sehen konnte, wie hell und gierig und ernst seine Augen waren. «Nein, Schätzchen, ich schwöre bei Gott, ich würde nie versuchen, dir Angst zu machen. Niemals.»
    Und dann lächelte er

Weitere Kostenlose Bücher