Identität (German Edition)
einundneunzigtausend Stunden, was wahrscheinlich sogar konservativ geschätzt ist, aber es ergibt gerade etwas über zehn Jahre! Was ich, ehrlich gesagt, ein wenig beängstigend fand, obwohl es mich nicht davon abgehalten hat, weiter fernzusehen und Videospiele zu spielen, aber – es ist irgendwie traurig.»
«Na ja», sagte Miles. «Ich würde sagen, so was kann man nur schwer ausrechnen.»
«Ich hab sogar eine Tabellenkalkulation erstellt», sagte John Russell. «Bei Gelegenheit zeig ich sie dir.»
Miles nickte. «Das wär cool», sagte er – und konnte nicht umhin zu denken, wie entzückt Hayden von John Russells «Tabellenkalkulation» gewesen wäre.
«Der Typ ist ein noch größerer Freak als wir, Miles», hatte Hayden früher immer gesagt.
Und Miles protestierte. «Wir sind keine Freaks», sagte Miles. «Und er auch nicht.»
«Ich bitte dich», sagte Hayden dann.
Er erinnerte sich, wie sehr es Hayden amüsiert hatte, dass John Russell sich immer mit Vor- und Nachnamen anreden ließ. «Wie affektiert», hatte Hayden gesagt. «Aber irgendwie gefällt’s mir.» Und dann hatte Hayden eine kleine Parodie von John Russells zierlicher, hühnerartiger Art zu gehen aufgeführt. Über die Miles wider Willen hatte lachen müssen, und selbst jetzt war es schwierig, John Russell nicht als Witzfigur zu sehen.
Aber er würde nicht an Hayden denken.
«Wie auch immer», sagte er.
Er und John Russell hatten je ein Pint Bier bestellt, und sie führten beide ihr Glas an die Lippen und tranken einen Schluck. Sie lächelten sich gegenseitig zu, und Miles war bewusst, wie sehr er sich wünschte, dass sie Freunde wären, ganz normale Freunde, aber stattdessen entstand eine peinliche Stille, die er nicht zu überbrücken wusste. John Russell räusperte sich.
«Jedenfalls», sagte John Russell, «schlagen Menschen unterschiedliche Lebenswege ein. Wie zum Beispiel – hast du von Clayton Combe gehört? Du erinnerst dich doch an ihn, oder?»
«Klar», sagte Miles, obwohl er seit Jahren nicht mehr an Clayton Combe gedacht hatte.
Er war ein Junge auf der Hawken School gewesen, den weder er noch John Russell leiden konnten: ein intelligenter, bei allen beliebter Schüler, sportlich, gut aussehend, aber, wie sie fanden, ein gönnerhaftes Arschloch. Er hatte das widerlichste selbstzufriedene Grinsen, das Miles je bei einem Menschen gesehen hatte.
«Du wirst es nicht für möglich halten», sagte John Russell in vertraulichem Ton. «Alle dachten doch, er würde es noch sehr weit bringen. Wie sich dann aber herausstellte, hat er sich das Leben genommen. Er war Investmentbanker bei der ING, und es gab einen Unterschlagungsskandal. Er behauptete, er sei unschuldig, aber er wurde verurteilt und hätte an die fünfzehn Jahre absitzen müssen, doch dann –», John Russell hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, «– hat er sich aufgehängt .»
«Das ist ja furchtbar», sagte Miles.
Und das war es zwar wirklich, aber er konnte nicht behaupten, dass es ihn besonders betrübt hätte. Er erinnerte sich, dass Hayden Clayton Combe von Herzen verabscheut hatte – dass er immer Claytons Art imitiert hatte, beim Lächeln den Kopf in den Nacken zu werfen, als ob ihm Beifall gespendet würde. Hayden hob dann die Hand und winkte einer imaginären begeisterten Menschenmenge zu, wie eine Schönheitskönigin auf einem Festwagen, und Miles und John Russell fanden diese Parodie immer zum Schießen.
Und dann, Miles konnte nichts dagegen tun, schaltete sich der Detektiv in ihm ein und blinzelte.
War die ING nicht eines dieser Unternehmen, dachte Miles, eine der vielen Körperschaften, gegen die Hayden was hatte?
Hatte er sie nicht in einer seiner E-Mails erwähnt? In einer seiner verschiedenen Schimpfkanonaden?
Aber er sollte sich jetzt nicht in diese Richtung ziehen lassen.
«Armer Clayton», hörte er sich selbst murmeln. «Das ist so …», sagte er. «So eigenartig.»
Aber war es das wirklich? War es eigenartig?
Im Lauf der Woche nach dem Gespräch mit John Russell dachte er darüber nach. Warum musste immer alles auf Hayden hinauslaufen? Warum konnte er nicht einfach dasitzen und sich mit einem alten Freund nett unterhalten? Warum konnte die Geschichte von Clayton Combe nicht einfach eine – Klatschgeschichte sein? Und er weigerte sich, der Sache nachzugehen. Er würde Clayton Combe nicht googeln; er würde die Geschichte nicht in eine paranoide Phantasie umwandeln.
Aber schließlich schrieb er es doch in seinen
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